Ukrainische Streitkräfte: Demokratischer Mentalitätswandel
Öffentliche Kritik ukrainischer Soldaten an Vorgesetzten führt neuerdings zu Reformen. Das stärkt auch den Schutz von Menschenleben.
Und obwohl natürlich in der Armee eiserne Disziplin herrschen muss und sie kein Ort der Demokratie ist, wird solchen Ersuchen neuerdings oft stattgegeben und die Kritik der Soldaten wird geprüft.
„Wir verstehen, dass im Krieg jeden Tag Menschen sterben. Das ist unvermeidbar. Aber als unsere Befehlshaber nicht hören wollten, dass man die Verluste verringern kann, haben meine Kameraden und ich einen offenen Brief geschrieben“, erzählt mir mein Bekannter Oleh, Offizier der 14. Brigade der ukrainischen Streitkräfte in der Westukraine.
Am 1. Juli hatte er mit anderen Offizieren eine Eingabe geschrieben und den Führungsstil des neuen Brigadekommandeurs kritisiert, der zu erheblichen Verlusten in der Einheit geführt hatte. „Der Kommandeur hat auf konstruktive Kritik nicht reagiert“, schrieben die Soldaten der Brigade, die aktuell überprüft wird.
Soldateneingaben werden überprüft
Mit dieser Überprüfungspraxis wurde in einer der renommiertesten Einheiten der ukrainischen Armee – der 12. Brigade der Nationalgarde „Asow“ – begonnen. Eine harte Aussage des Stabschefs der Brigade, Bohdan Krotewytsch, hatte im Juni zum Rücktritt des Kommandeurs der gesamten Ostfront, Juri Sodol, geführt. Sodol war früher Marinekommandeur gewesen.
Im Februar 2024 hatte ihn Oleksandr Syrskij, Nachfolger von Walerij Saluschnyj als Oberbefehlshaber der ukrainischen Armee, mit der Leitung der ukrainischen Truppen im Osten der Landes beauftragt. Krotewytsch, der 2022 eine Zeit lang mit Sodol Mariupol verteidigt hatte, sagte, dieser habe „mehr ukrainische Soldaten getötet als jeder russische General“. Außerdem, so Krotewytsch, wurde Sodol der Titel „Held der Ukraine“ verliehen, obwohl er nicht eine Stunde in der Frontstadt verbracht habe, während die russischen Besatzungstruppen gnadenlos von allen Seiten vorrückten.
Präsident Wolodymyr Selenskyj reagiert fast umgehend. Nur wenige Tage später wurde Juri Sodol aus allen Führungspositionen der Armee entlassen. Doch das reichte Krotewytsch nicht. Er fordert jetzt ein Strafverfahrens gegen Sodol, weil der seiner Meinung nach oft Angriffe angeordnet habe, bei denen dies physisch gar nicht möglich gewesen war. Nach diesem Vorfall schrieben plötzlich auch andere Soldaten, Freiwillige und Blogger Kritisches über die Armee.
Armee kann sich aktiv ändern
Im Juli warf eine Asowstal-Verteidigerin, die Sanitäterin Kateryna Polishchuk, die in russischer Gefangenschaft gewesen und im September 2022 freigekommen war, dem Kommandeur der 59. Brigade, Bohdan Schewtschuk, vor, die Brigade zu zerschlagen und das Leben seiner Untergebenen zu vernachlässigen. Oberbefehlshaber Syrskyj ordnete umgehend eine Aufklärung darüber innerhalb der Brigade an.
„Das ist nur ein Beispiel für die Fähigkeit der Armee, sich aktiv zu ändern“, kommentierte der Sprecher des ukrainischen Verteidigungsministerium, Dmytro Lasutkin. Er denkt, dass die Armeeführung nicht blindlings an ihrer Position festhält, sondern auf Soldaten hört.
In Russland sei so etwas unmöglich, so Lasutkin. In der Ukraine hingegen seien öffentliche Skandale ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft Anteil an der Verteidigung des Landes nimmt und der Armee gegenüber nicht gleichgültig ist. Auf diese Weise kann die Zivilgesellschaft auf die Verbesserung negativer Aspekte in der Armee Einfluss nehmen.
Bei der Überprüfung der 59. Brigade wurde übrigens später festgestellt, dass es keine kriminellen Befehle gegeben habe. Für falsche Entscheidungen bei Kampfeinsätzen wurden jedoch einige der Offiziere bestraft.
Keine „Fleischwolfangriffe“ durchführen
Zu einer ehrlichen Bewertung der Arbeit der Armeekommandeure rief auch Oleh Senzow auf. Der von der Krim stammende ukrainische Filmregisseur war zwischen 2016 und 2018 in russischer Haft, seit 2022 ist er Offizier der ukrainischen Streitkräfte.
Er erinnerte daran, dass zum Durchbruch der Russen im Mai im Gebiet Charkiw beigetragen hatte, dass man den Befehlshabern zuvor von einer „normalen Situation“ berichtet hatte. In Wirklichkeit aber drangen die russischen Einheiten innerhalb weniger Tage fünf Kilometer auf ukrainisches Gebiet vor. „Wir leben in einer ständigen Lüge. Damit müssen wir aufhören, denn diese Lügen haben Konsequenzen“, sagte er.
Ein weiteres Beispiel für „direkte Demokratie“ in der ukrainischen Armee sind – nach Meinung von Soldaten – Personalentscheidungen. Aktuell gibt es einen Konflikt in der 80. Brigade. Der Fallschirmjägerkommandant Emil Ischkulow wurde aus der Brigade heraus auf einen höheren Posten befördert. Die Soldaten glauben aber, dass der wahre Grund dafür ist, dass Ischkulow Kampfeinsätze detailliert plant, da für ihn das Leben der Soldaten an erster Stelle steht. Die Fallschirmjäger fordern, Ischkulow in der Brigade zu belassen.
Über einen ähnlichen Fall wurde aus der 24. Brigade berichtet. Die Soldaten eines Bataillons verteidigten dort ihren Brigadekommandeur, den „Helden der Ukraine“ Iwan Golyschewskij. Ihren Angaben nach sollte er als Dozent an eine Hochschule geschickt werden, weil er sich weigerte, sogenannte Fleischwolfangriffe durchzuführen. Die Soldaten baten den Präsidenten darum, Einfluss auf diese Entscheidung zu nehmen.
Vor dem Hintergrund dieser Skandale konnte Wolodymyr Selenskij nicht schweigen und rief die Kommandeure dazu auf, das Leben der Soldaten zu schützen. „Jeder Kommandeur muss im Kopf haben: Menschen sind nicht entbehrlich. Ihre Kräfte, ihr Wissen, ihre Kenntnisse sind wichtige Werte für unseren Staat“, sagte der ukrainische Präsident Ende Juli in einem Auftritt vor Armeekommandeuren.
Aus dem Russischen: Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance