Ukrainische Flüchtlinge in Polen: Zuflucht hinter der Grenze
Seit dem russischen Überfall haben eine Million Menschen, vor allem Frauen und Kinder, die Ukraine verlassen. Die meisten flüchten nach Polen.
D ie Russen schicken ihre Kinder über die Grenze, um unsere Kinder zu töten“, flüstert die 38-jährige Ukrainerin Mirka Z. und wischt sich verstohlen über die Augen. „Kann man das verstehen? Nein, das ist unmöglich! Wir waren doch mal Freunde.“ Vor zwei Tagen brach sie überstürzt aus der Kleinstadt Bibrka in der Westukraine auf, um den 16-jährigen Sohn David und die 9-jährige Tochter Jaryna in Sicherheit zu bringen. „Wir haben in Lwiw einen außerplanmäßigen Zug genommen. Egal wohin, Hauptsache raus, am besten nach Polen.“
Jetzt wartet sie hinter der Grenze in der Erstaufnahmestation in Chełm auf ihre Schwester. Die lebt seit Jahren in Südostpolen und will die kleine Familie erst einmal aufnehmen. „Aber das ist keine Lösung auf Dauer“, setzt Mirka hinzu. „Ich muss eine eigene Wohnung finden, auch Arbeit natürlich, und die Kinder müssen Polnisch lernen und hier zur Schule gehen.“
Seit dem Überfall Wladimir Putins auf das Nachbarland am 24. Februar haben knapp eine Million Menschen die Ukraine verlassen, zumeist Frauen und Kinder. Männer zwischen 18 und 60 Jahren werden von der allgemeinen Mobilmachung erfasst und müssen das Land verteidigen. Nur wenn in der Familie mindestens ein Kind unter drei Jahren ist, dürfen auch wehrfähige Männer ausreisen.
Die meisten der Flüchtlinge, rund 600.000, kamen bislang nach Polen, da hier schon über eine Million ukrainischer Landsleute leben. Zudem sind sich die Sprachen sehr ähnlich, sodass eine Verständigung unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen möglich ist. Viele werden in Polen aber nur einen Zwischenstopp einlegen und später weiterfahren – nach Deutschland und Österreich, Italien und Spanien, in die USA und nach Kanada.
Warten auf die Schwächsten
Am Hauptbahnhof von Chełm sind zwei Gleise mit Flatterband abgesperrt. Dutzende Grenzschützer, Polizisten, Pfadfinder und Freiwillige bereiten die Bahnhofshalle auf die Ankunft eines Zuges mit behinderten und kranken Kindern und deren Müttern und Betreuerinnen vor. Im Angebot sind Suppe, Tee und Kaffee, belegte Brote, Salzstangen und Süßigkeiten, aber auch Hygieneprodukte, Decken, warme Kleidung, Teddybären und Matchbox-Autos. Auf dem ersten Tisch liegen die Anmeldeformulare für den Aufenthalt in Polen sowie Informationsblätter mit wichtigen Adressen und Telefonnummern in ukrainischer Sprache.
Doch der Zug aus der ukrainischen Partnerstadt Kowel hat Verspätung. „Das kommt bei den außerplanmäßigen Zügen immer wieder vor“, erklärt die resolute Vize-Stadtpräsidentin Dorota Cieślik, die am Bahnhof alles managt und für jeden ein freundliches Wort hat. „Wenn eine Lokomotive und eine paar Waggons frei sind, organisiert die ukrainische Bahn eine Fahrt. Erst dann werden wir informiert, dass ein Zug unterwegs ist und in ein, zwei oder drei Stunden bei uns sein wird. Aber manchmal wird der Zug auch an einem Bahnhof gestoppt. Dann werden Waggons abgehängt oder ausgetauscht. Es ist eben Krieg.“
Endlich rollt der Zug ein. Es ist ein Nachtzug mit den charakteristischen blauen Schlafwagen. Die Grenzkontrolle findet gleich im Zug statt. Doch plötzlich quäkt die Stimme einer Frau aus dem Walkie-Talkie in der Bahnhofshalle. Sofort laufen Dutzende Grenzer und Freiwillige mit Decken, Windeln, Proviant und Dutzenden Wasserflaschen zum Zug. Denn nur 60 Flüchtlinge verlassen den Zug, darunter einige Kinder im Rollstuhl.
Die meisten Ukrainerinnen wollen mit den Kindern gleich weiter nach Warschau und von dort nach Westeuropa. Doch es sind auch einige Verwandte und Freunde gekommen, die schon in der Bahnhofshalle auf die Kriegsflüchtlinge zustürzen und sie umarmen. „Sweta“, ruft ein älterer Mann in einem knielangen dunkelgrünen Parka. „Igor, wie gut, dass ihr da seid!“
Ein paar Kilometer stadteinwärts geht Chełms Bürgermeister Jakub Banaszek in seinem Büro auf und ab, immer das Handy am Ohr. Der mit 30 Jahren jüngste Bürgermeister Polens koordiniert die Hilfsaktionen in der 60.000 Einwohner zählenden Grenzstadt. „Schon am ersten Kriegstag kamen so viele Flüchtlinge mit dem Zug, dass der bisherige Eisenbahn-Grenzübergang in Dorohusk schließen musste. Er ist einfach zu klein“, berichtet er. „Wir haben dann den Hauptbahnhof zum Grenzkontroll- und Informationspunkt für die Flüchtlinge umgewandelt. Es gibt eine heiße Begrüßungssuppe, auch Tee oder Kaffee und einen Selbstbedienungsstand mit Hilfsgütern.“
Ein Bürgermeister im Dauerstress
Das Handy klingelt wieder. „Ja, ich kann den Transport in die Ostukraine bestätigen. Keine Kleidung und Schuhe. Sie brauchen dort Taschenlampen, Batterien, Isomatten, Powerbanks und Ladekabel für Handys, Winter-Schlafsäcke, Medikamente und Verbandszeug.“ Er legt das Handy auf die Seite, drückt „Flugzeugmodus“ und erklärt: „Wir haben zwei Warenumschlagplätze eingerichtet. Einen kleineren, wo vor allem Privatleute Hilfsgüter jeder Art abgeben, aber auch für Flüchtlinge abholen können. Und einen größeren für große Lkws, wo Euro-Paletten mit Hilfsgütern für die Transporte in die Ukraine verladen werden.“
In Chełm kommen vor allem Züge aus den besonders umkämpften Gebieten rund um Kiew und Charkiw an. Die beiden Partnerstädte Kowel und Luzk liegen in der historisch schwer belasteten Region Wolhynien. Im Zweiten Weltkrieg hatten sich hier Ukrainer und Polen gegenseitig ermordet. Der Versöhnungsprozess dauert bis heute. Jetzt schicken die Städte alle Flüchtlingszüge nach Chełm. Zusammen mit dem Grenzübergang Dorohusk für Fußgänger, Pkws und Lastwagen ist Chełm der nördlichste von acht polnisch-ukrainischen Grenzübergängen.
Ein paar Kilometer weiter nördlich stößt das mit Russland verbündete Belarus an Polen und die Ukraine. Doch der polnisch-belarussische Grenzübergang Sławatycze/Damatschawa liegt wie die gesamte polnisch-belarussische Grenze in einer drei Kilometer breiten und rund 400 Kilometer langen Sperrzone. Hier stoßen zwei Kulturen aufeinander. Stacheldraht, Pushbacks, eine fünfeinhalb Meter hohen Stahl-Grenzanlage mit Bewegungsmeldern zur Abwehr von Flüchtlingen auf der einen Seite – große Hilfsbereitschaft, Willkommenskultur und Solidarität auf der anderen.
Bei den einen handelt es sich um den Umgang mit Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak und anderen Ländern des Nahen Ostens, vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko ins Land geholt. Sie wurden oft mit Gewalt über die grüne Grenze Litauens, Lettlands und Polens in die EU geschoben. Bei den anderen handelt es sich um die ukrainischen Kriegsflüchtlinge, die vor Gewalt, Bomben und Zerstörungen fliehen, die der russische Machthaber Wladimir Putin in ihr Land trug.
Misstrauen gegen Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien, dem Irak
Aus der Ukraine flüchten aber auch viele Ausländer, vor allem Afrikaner, die dort studiert und gearbeitet haben. Der Stadtpräsident nickt. „Zu den illegalen Grenzübertritten kann ich nichts sagen. Damit hatten wir in Chełm bislang nichts zu tun.“ Er macht eine kurze Pause und wägt dann seine Worte vorsichtig ab: „Aber der Staat muss natürlich die Sicherheit seiner Bürger im Auge behalten. Wissen wir, wen Lukaschenko illegal zu uns rüberschiebt? Sind es vielleicht Terroristen? Die Deutschen haben mit der unkontrollierten Aufnahme von Migranten böse Erfahrungen gemacht. Das war uns Polen eine Lehre.“
Er nimmt die Coronamaske kurz ab, um einen Schluck Kaffee zu trinken. Erste Sonnenstrahlen tauchen das Büro mit dem großen Besprechungstisch in ein warmes Licht. „Natürlich können wir nicht ausschließen, dass sich unter den Flüchtlingen aus der Ukraine auch solche befinden, die eigentlich Lukaschenko ins Land geholt hat, um mit ihnen die EU zu destabilisieren.“ Der studierte Manager für Gesundheitsvorsorge nickt erneut und zieht dann die Maske wieder hoch. „Wenn sie sich ausweisen können, nehmen wir sie auf. Keine Frage. Viele wollen ja auch einfach nur nach Hause fliegen. Die anderen …“, er schweigt kurz, „die anderen müssen sich an den Grenzschutz wenden, der dann entscheidet, wie es für sie weitergeht.“
Er steht auf, geht ein paar Schritte, reckt und streckt sich und zieht das blütenweiße Hemd zurecht. Nach einer Operation an der Wirbelsäule ist er gesundheitlich noch nicht ganz auf der Höhe. „Dann habe ich mich im Krankenhaus auch noch mit Covid-19 angesteckt. Dazu jetzt die Flüchtlinge – es kommt halt immer alles zusammen.“ Banaszek setzt sich wieder, schaut kurz auf das Handy, murmelt: „Später“, und fährt fort: „Wir haben bislang über 15.000 Flüchtlinge erstversorgt. Bis auf rund 1.000 sind alle bereits weitergefahren – zu Freunden und Bekannten in Polen und der Welt.“ Knapp hundert hätten sich entschieden, in Chełm auf das Ende des Krieges zu warten und dann zurückzufahren. Das seien meist Mütter mit kleinen Kindern.
Es geht nach Krakau, Kalisz, Warschau, Łódź
In der großen Sporthalle Chełms, die provisorisch zu einem Erstaufnahmepunkt umgestaltet wurde, geht es zu wie auf einem Busbahnhof. Per Lautsprecher werden Busse angekündigt, die nach Krakau, Kalisz, Łódź oder Warschau fahren. Frauen und Kinder laufen umher, holen Kleidungsstücke aus Koffern und Taschen und packen sie wieder ein. Dreihundert Menschen können hier auf Klappliegen ausruhen oder auch übernachten. Es gibt zwei Küchen mit fertigen Gerichten, die in der Mikrowelle aufgewärmt werden können, Suppen, Crêpes mit Quarkfüllung, Krapfen, Käsekuchen und Äpfel.
Die Atmosphäre ist trotz der Lautsprecherdurchsagen ruhig. Kinder spielen mit Lego-Bausteinen, ziehen Plüschtiere auf Rollen hinter sich her oder legen mit ihren Müttern ein Puzzle. Freiwillige, meist Studierende, Schüler und Schülerinnen, aber auch Ältere, tragen gelbleuchtende Westen, auf denen „Polnisch-ukrainischer Übersetzer“ zu lesen ist, „Ordnungsdienst“ oder auch „Psychologe“.
Mirka schaut immer wieder auf die Uhr. Die verwitwete Ukrainerin mit den schulterlangen braunen Haaren wartet auf ihre Schwester. Ihr Sohn David beruhigt sie. Er werde sich auf die Lautsprecheransagen konzentrieren und ihr Bescheid sagen, sobald sie aufgerufen werde. Sie wollen als Erstes nach Sandomierz fahren. Doch die Wohnung der Schwester sei zu klein. Dort könnten sie nicht bleiben. „Aber das ist hier toll organisiert. Ich habe schon mehrere Wohnungs- und Arbeitsangebote bekommen“, freut sie sich. Sie habe hier schon die Adresse und Telefonnumer der Schwester hinterlassen.
„Ich muss noch mal zurück, um die Katze und das Kaninchen zu holen“
In ein paar Tagen, wenn sie zu sich gekommen sei, werde sie mit den Kindern entscheiden, wohin in Polen sie ziehen wollen. „Ich mache mir da gar keine Sorgen“, sagt sie. „Aber ich muss noch mal zurück in die Ukraine, um die Katze und das Kaninchen zu holen. Das sind Tiere meiner Kinder. Wir können sie doch nicht im Krieg zurücklassen.“ Eventuell würden auch Bekannte, die noch fliehen wollten, die Tiere mitnehmen. Sonst würde sie in den nächsten Tagen zurückfahren und sie holen. „Mirka Z., kommen Sie bitte zum Eingang. Sie werden abgeholt.“ Plötzlich wird Mirka aufgerufen. Die drei nehmen ihre Rucksäcke und den Rollkoffer. „Auf Wiedersehen“, grüßt Mirka ihre Klappbettnachbarn. „Bis irgendwann zu Hause in der Ukraine.“
Im Suchodolski-Schlösschen im Grenzort Dorohusk ist die Atmosphäre eine ganz andere. Die Luft ist zum Schneiden dick. Ein Geruch von Erbsensuppe und nassen Kleidern wabert durch das Haus. Obwohl es sehr warm ist, sitzen viele Frauen wie erstarrt in ihren dicken, nassen Mänteln in der kleinen Eingangshalle oder im Esszimmer neben der Küche. Eigentlich dient das Schlösschen den Einwohnern von Dorohusk als Kulturzentrum. Jetzt wurde es auch in einen Erstaufnahmepunkt umgewandelt.
Cecylia Wawryniuk, die eigentlich im Sozialamt von Chełm arbeitet, erklärt die gedrückte Stimmung. „Wir haben hier vor allem Flüchtlinge aus den umkämpften Gebieten weiter im Osten“, sagt sie. „Viele stehen unter Schock.“ Sie hätten Bomben einschlagen sehen, rollende Panzer, schießende Soldaten, zerstörte Häuser. „Wir können hier nur eine erste Notversorgung bieten, dann müssen diese Frauen und Kinder weiter und irgendwo eine neue Bleibe finden.“
Eine polnische Flüchtlingshelferin
Die 45-Jährige steht kurz auf und lehnt ein paar Staffeleien, die umzukippen drohen, gerade an die Wand. Dann fügt sie hinzu: „Aber was diese Frauen und Kinder hier vor allem brauchen, das ist kein Essen und auch kein Schlafplatz. Das ist Trost und Zuspruch, eine Umarmung, das Gefühl von Sicherheit und die Aussicht auf ein lebenswertes Leben.“ Sie lässt kurz den Kopf hängen, rafft sich aber wieder auf: „Das können wir leider nicht leisten. Aber wir tun alles in unserer Macht Stehende, um zumindest die ersten Weichen richtig zu stellen.“
Auf der Fahrt zum Grenzübergang Dorohusk fallen die vielen Lastwagen auf. Auch direkt hinter der bisherigen Eisenbahn-Grenzstation, an der nun seit Tagen kein Zug mehr hält, weil das Gedränge zu gefährlich wurde, stehen Hunderte Lkws. Die Fahrer haben die Lkws stehen gelassen, um zu Fuß über die Grenze zu gehen und in der Ukraine zu kämpfen. So zumindest erzählt es ein Polizist. Ob die bewacht werden? Der Polizist zuckt mit den Schultern und sagt: „Ich habe ohnehin zu viel gesagt.“
Die Fahrbahn Richtung Ukraine ist leer, doch auch aus der Ukraine fährt nur alle paar Minuten mal ein Auto über die Grenze nach Polen. Der Rückstau soll gewaltig sein: Zwanzig Kilometer? Vielleicht vierzig? So genau weiß das keiner. Stattdessen kommen Dutzende Frauen zu Fuß, ihre Kinder an der Hand, übermüdet und durchgefroren. Auf sie warten Busse der Erstaufnahmepunkte, aber auch Verwandte mit Pkws und Kleinbussen.
Vor gut einer Woche gab es hier nur einen Imbiss auf dem matschigen Parkplatz. Inzwischen haben Hilfsorganisationen Zelte aufgestellt. Bevor es weitergeht, wärmen sich hier viele mit Tee und einer heißen Suppe auf. Reden will niemand. „Ich muss mich dringend hinlegen“, sagt eine Ukrainerin. „Ich kann nicht mehr.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja