Überleben im Ersten Weltkrieg: Opas Notizen vom Krieg
Willy Hillenbrand kritzelte als Soldat Belanglosigkeiten in ein Büchlein. Das Büchlein rettete ihm das Leben. Dennoch gehörte er zur Generation Arschkarte.
Das Notizbuch ist von undefinierbarer braungrauer Farbe und besitzt einen abgewetzten Umschlag. Die Seiten im Innern sind gebräunt, typisch für das minderwertige Papier, das man im Krieg verwendete. Innen finden sich kurze, kaum entzifferbare Notizen, geschrieben mit Bleistift. Nein, kein schwülstiges Gedicht, keine aufrüttelnden Berichte von der Front, nur Banalitäten. Eigentlich ein Fall fürs Altpapier.
Wenn man mich fragen würde, was ich, Jahrgang 1957, mit dem Ersten Weltkrieg zu tun habe, ist die Antwort denkbar einfach. Es ist dieses Notizbuch meines Großvaters väterlicherseits. Ohne dieses Büchlein gäbe es mich nämlich nicht. Willy Hillenbrand, nur 1,58 Meter groß, trug es in der linken Brusttasche, als er als Soldat unfreiwillig für Kaiser und Vaterland kämpfe.
An der Westfront, irgendwo in Frankreich, geriet Willy in schwere Kämpfe. Ein Schrapnell traf seine Uniform, riss diese auf und blieb in dem Notizbuch stecken. Das Buch hat davon eine tiefe, unregelmäßig geformte Kerbe erhalten. Ein großer Teil seiner Seiten sind zerrissen. Aber tiefer drang das Geschoss nicht ein und verschonte so Willys Körper. Das Notizbuch hat meinem Großvater das Leben gerettet.
Willy, eigentlich Wilhelm Hillenbrand, war keiner, der daran Freude hatte, Heldengeschichten vom Ersten Weltkrieg zu erzählen. Wenn es auf das Thema kam, so berichtete mein Vater, unterbrach er seinen Redefluss und verstummte. Er, Sozialdemokrat seit etwa 1910, hasste den Krieg. Seine militärische Karriere blieb bescheiden; er schaffte es in vier Jahren vom einfachen Soldaten bis zum Gefreiten. Das Notizbuch aber hat Willy aufgehoben und seine Geschichte weitergegeben.
Dann gibt es da noch ein Album, „Kriegserinnerungen“ überschrieben und mit vielen Schwarzweißpostkarten bestückt. Diese Bilder hat seine damalige Verlobte und spätere Ehefrau Luise Hofmann aufbewahrt, die er bei einem Arbeitersportfest kennen gelernt hatte. Auf den Postkarten finden sich kurze, geradezu militärisch knappe Grüße von der Front. „Liebe Luise! Sende Dir hiermit herzliche Grüße bei bester Gesundheit“ steht da geschrieben, oder: „Deinen Brief habe ich erhalten. Werde morgen antworten.“ Dann gibt es noch eine Schachtel mit ein paar weiteren Bildern und zwei größere Erinnerungsfotos.
Stolz junger Rekruten
Das eine zeigt Willy Hillenbrand bei seiner Militärausbildung mit einer Mütze auf dem Kopf und im Kreise seiner Kameraden. Es ist 1914 oder 1915 in Lübben im Spreewald aufgenommen. Das Foto vermittelt den Stolz der jungen Rekruten. Auf dem anderen Bild sind auch Kameraden zu sehen, die da offenbar arrangiert in der Landschaft umherliegen, aber niemand trägt mehr eine Uniform. Es entstand 1918 oder 1919 in französischer Kriegsgefangenschaft.
Mit seinem Jahrgang 1894 zählte Willy zu der Generation von Deutschen, die die Arschkarte gezogen hatten. 1914 ging er als noch junger Mann für vier Jahre in den Ersten Weltkrieg und überlebte. 1939/40 erfolgte seine Einberufung in den Zweiten, die der nun über 40-Jährige größtenteils in der französischen Etappe in Metz verbringen musste. Das sind zusammen zehn Jahre Krieg, unterbrochen von einer missglückten Revolution, einer Inflation, die seine Ersparnisse fraß und ihn in die Arbeitslosigkeit führte, und den Jahren der Nazi-Diktatur, die der eingeschriebene Sozialdemokrat immerhin ohne Haft in einem Konzentrationslager überstand.
Ja, es gab noch ein bisschen privates Glück, die Heirat mit seiner Luise Anfang der 1920er Jahre, die Zweizimmerwohnung in Frankfurt am Main, die Geburt meines Vaters im Jahre 1926. Aber auch viel Krach: Willys Vater Ignaz, alter sozialdemokratischer Arbeiteradel, war in der Weimarer Republik zu den Kommunisten gewechselt und grüßte bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit „Rotfront“. Der vorsichtige Willy, aufgestiegen zum Angestellten einer Bank, blieb seiner SPD treu.
Die Kämpfe in der gespaltenen deutschen Arbeiterbewegung blieben nicht auf Parteitage und Straßenversammlungen beschränkt. Sie fanden ihre lautstarke Entsprechung in der Frankfurter Spenerstraße, Hochparterre rechts. Willy Hillenbrand, den ich als sehr klein, sehr dick und glatzköpfig in Erinnerung behalten habe, ist 1964 im Alter von 70 Jahren an einem Herzinfarkt verstorben. Jedes siebte dieser 70 Jahre hatte er im Krieg verbracht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles