Überlastung der Justiz: Sozialgericht muss weniger klagen
Zum ersten Mal seit Jahren geht die Zahl der Klagen am Sozialgericht leicht zurück - Zeit für mehr als 42.000 unerledigte Verfahren.
Etwas irritiert ist sie dann doch, als die Pressevertreter mit ihren Kameras in den kleinen Saal drängen. „Mit ihnen hat das nichts zu tun“, sagt die Richterin gut gelaunt. Die junge Frau, über deren Klage verhandelt werden soll, nickt erleichtert und wendet sich wieder ihrem Anwalt zu.
Das Sozialgericht Berlin hat am Dienstag zur jährlichen Jahresbilanz geladen. Und gleich angeboten, anschließend doch eine Verhandlung zu besuchen – eine, die durchaus stellvertretend stehen kann für die Tausende Fälle, die das hiesige Sozialgericht zum größten und vielbeschäftigsten Gericht der Bundesrepublik haben werden lassen: Eine junge Hartz-IV-Empfängerin merkt spät von ihrer Schwangerschaft und stellt kurz vor der Geburt einen Antrag auf Erstausstattung. Das Jobcenter gewährt ihn, zieht jedoch einen Teil des Betrages ab. Begründung: Schwangerschaftskleidung wäre ja so kurz vor der Geburt vermutlich schon vorhanden.
Wieder kein Urteil
Nun wird also versucht, aus den Vorschriften herauszulesen: Wie viel der Einmalzahlung für die Erstausstattung ist wofür gedacht? Was gehört zur Schwangerschaftskleidung, und braucht man diese nur vor oder auch nach der Geburt? Im November 2012 klagte die junge Frau, das Angebot eines Vergleichs hat das Jobcenter abgelehnt. Ein Urteil gibt es auch an diesem Tag nicht. Das Verfahren wird vertagt. Es geht um nicht einmal 200 Euro.
„Das Hauptproblem heißt immer noch Hartz IV“, sagt Sabine Schudoma, die Präsidentin des Sozialgerichts. 62 Prozent aller Verfahren machen Streitigkeiten um die Grundsicherung aus, von den 130 Richtern arbeiten 63 nur dazu. In den meisten Fällen geht es um die Übernahme von Wohnkosten, Sanktionen oder die Anrechnung von Einkommen, die sich gerade bei Selbstständigen enorm schwierig gestalte, so Schudoma. Alle 20 Minuten, rechnet die Präsidentin vor, klagt ein Berliner gegen sein Jobcenter. Häufig zu Recht: In 54 Prozent der Fälle bekommen die Kläger zumindest teilweise recht.
Der Gipfel ist überwunden
Immerhin, es war schon schlimmer: Zwischen der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 und 2010 hat sich die Zahl der Klagen versechsfacht. Und sich beim Sozialgericht ein Berg von unerledigten Verfahren angehäuft. Insgesamt 42.000. Zumindest aber, so hofft Schudoma, sei der Gipfel überwunden: 2012 war mit insgesamt 44.301 eingegangenen Klagen am Sozialgericht ein Rekord erreicht worden. Vergangenes Jahr nahm die Zahl zum ersten Mal ab, auf 41.975.
Die neue Verordnung von 2012, die die Übernahme der Mietkosten regele, habe zu dieser Verbesserung beigetragen, so Schudoma. Aber auch den Jobcentern gelinge es offensichtlich besser, die Bearbeitungsfristen einzuhalten und damit weniger Untätigkeitsklagen zu provozieren.
Zugenommen hat hingegen der Anteil der Klagen von EU-Bürgern, die in Berlin leben. Vor allem die Zahl ihrer Eilanträge sei seit rund zwei Jahren gestiegen, sie machten heute rund 15 Prozent der Eilanträge aus. „Es gibt aber keine EU-Klagewelle“, stellt Schudoma klar. Ein einheitliches Bild könne man nicht präsentieren, die Fälle seien „so bunt wie Europa“. Manche lebten seit Jahren in Berlin, andere kämen neu hierher, alleine oder mit Familie. Ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Aufstockung hänge von vielen Faktoren ab: „Jeder Einzelfall muss kritisch geprüft werden.“
Unklar sei derzeit noch, ob EU-Bürger Anrecht auf Grundsicherung haben, wenn sie vorher nicht gearbeitet haben – dazu kämen Gerichte in Deutschland zu verschiedenen Ergebnissen. Nun warte man auf die Entscheidung im Fall einer schwedischen Familie in Neukölln. Den hat das Bundessozialgericht im Dezember dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Das Urteil wird auch auf viele Fälle in Berlin Einfluss haben.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Nach Absage für Albanese
Die Falsche im Visier
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator