Übergang zur Demokratie: Schatten über Äthiopien
Ethnische Gewalt und politische Spannungen gefährden die Reformpolitik des jungen Premiers Abiy Ahmed. Bricht der Vielvölkerstaat auseinander?
Als Abiy im April 2018 an die Macht kam, wurde er gefeiert als junger Politiker, der sachlich und nüchtern sprach. Er feuerte korrupte Beamte und kritisierte seine eigene Partei. Er ist Sohn eines muslimischen Oromo-Vaters und einer christlichen Amhara-Mutter, eine ideale Verkörperung des Vielvölkerstaats Äthiopien.
Aber heute fragen sich Äthiopier, ob er der Mann ist, den das Land jetzt und in der Zukunft braucht.
Nach dem gescheiterten Staatsstreich unter Anführung von General Asaminew Tsige im Juni wurden Hunderte von Menschen verhaftet und das Internet vorübergehend abgeschaltet. Der General war einer von Tausenden politischen Gefangenen gewesen, die Abiy unter anhaltenden Druck von Protesten der Bevölkerung voriges Jahr aus der Haft entlassen hatte – ein zentraler Beweis der politischen Liberalisiserung.
Tsige gehörte zur Volksgruppe der Amhara, der zweitgrößten des Landes, und war zum Sicherheitschef der Amhara-Region befördert worden, trotz seines Rufes, ein ethnischer Nationalist zu sein. Es war die typische Weise von Abiy, alte Feinde des äthiopischen Regimes zu umarmen, um Frieden und Ruhe zu stiften. Aber nach seinem mutmaßlichen Putschversuch wurde er erschossen.
Zurück in alte autoritäre Gewohnheiten?
War das eine Panikreaktion? Oder fallt Äthiopiens Regierungspartei EPRDF (Ethiopian Peoples Revolutionary Democratic Front) wieder in alte autoritäre Gewohnheiten zurück? „Beides“, glaubt Äthiopien-Experte William Davison von der International Crisis Group. „Viele dieser Handlungen waren gewohnheitsmäßige instinktive Reaktionen des Staates auf ernsthafte Bedrohungen. Wir werden sehen müssen, wie sich die anschließenden Strafverfolgungsmaßnahmen entwickeln, um dies zu beurteilen.“
Die EPRDF besteht aus vier regional-ethnischen Parteien, die die drei großen ethnischen Gruppen Äthiopiens vertreten – Amhara, Oromo und Tigray – sowie die von vielen kleineren Volksgruppen besiedelte „Region der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker“ im Süden des Landes. Seit Abiy an der Macht ist, wurden Zehntausende von Kritikern des Regimes freigelassen und kritische Aktivisten und Politiker aus dem Exil zurückgeholt: eine positive Entwicklung, die aber für neue Herausforderungen sorgt.
„Die politische Liberalisierung hat, obwohl notwendig, Probleme geschaffen, da jetzt verschiedene Fraktionen um Einfluss konkurrieren“, sagt Davison. Die ethnischen Gruppen dominieren ihre jeweiligen Regionen und öfter gibt es Streitereien um Land an den Grenzen dieser Regionen; außerdem konkurrieren insbesondere Amhara- und Tigray-Parteien um die Vorherrschaft im Land.
Seit die EPRDF vor dreißig Jahren an die Macht kam, wurden solche Konflikte mit eiserner Faust unterdrückt. Als Abiy Premierminister wurde, traten anfangs die Sicherheitsorgane sanfter auf. Aber nachdem die ethnischen Konflikte dieses Jahr immer mehr zunahmen, reagieren die Sicherheitskräfte wieder mit härterer Hand. In keinem Land der Welt leben aktuell mehr Menschen als Binnenvertriebene – über drei Millionen nach UN-Angaben.
Für 2020 sind Wahlen geplant
So wurden in Hawassa, Hauptstadt der Südregion, bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen lokalen Aktivisten der Sidama-Ethnie und Sicherheitskräften zahlreiche Menschen erschossen. Die Sidama wollen eine eigene Verwaltungsregion, aber die Zentralregierung fürchtet einen Dominoeffekt in dem Land mit 100 Millionen Einwohnern aus mehr als 80 Ethnien. Sie hat nun für den 13. November darüber ein Referendum angesetzt.
Äthiopien wird oft verglichen mit dem ehemaligen Jugoslawien, das nach dem Tod des autoritären Führers Josip Broz Tito auseinanderfiel. In Äthiopien besteht Angst, dass dem Land dasselbe Schicksal blüht, vor allem seit dem Tod des ebenfalls autoritären langjährigen Premierministers Meles Zenawi, ein Tigray, 2012. Sein Nachfolger aus dem Süden, Hailemariam Desalegn, war nicht imstande, die Einheit zu bewahren, und galt als schwach gegenüber den Tigray-Generälen. 2015 begannen Massenproteste vor allem unter Oromo und Amhara, die das Land in eine schwere Krise stürzten, was zur Machtübernahme durch Abiy im April 2018 und zu Reformen führte.
Abiys Zulassung eines echten Mehrparteiensystems machte den Weg frei für neue ethnisch-nationalistische Parteien. Diese Gruppen stehen nicht nur in Konflikt mit den alten Parteien, sondern streiten auch über Ernennungen in der Zentralregierung und der EPRDF.
Für 2020 sind Wahlen geplant, die Öl aufs Feuer gießen können. „Das Verschieben von Wahlen könnte das geringere Übel sein, aber es würde auch Widerstände hervorrufen“, analysiert Davison. „Selbst wenn sie alles andere als perfekt sind, wäre es wahrscheinlich besser, im nächsten Jahr Wahlen abzuhalten, um die Legitimität der Regierung zu stärken. Dies könnte jedoch riskant sein, erfordert eine Verbesserung der Sicherheit und viele Vorarbeiten in einem schwierigen Umfeld in kurzer Zeit.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr