Überfüllte Hörsäle: Die Grenze des Machbaren
Turbo-Abi und Ende der Wehrpflicht: Nie gab es so viele Studienanfänger. Um den Ansturm zu bewältigen, werden Kinosäle angemietet und Rektoren ausquartiert.
Die Einführungsveranstaltung findet im Eintracht-Stadion statt, dort, wo sonst 20.000 Fußballfans den Zweitligisten Eintracht Braunschweig anfeuern. In der Gegengeraden werden am 24. Oktober keine Fans, sondern Erstsemester Platz nehmen und der Rede von Jürgen Hesselbach lauschen, dem Rektor der Technischen Universität Braunschweig. Da die Universität in diesem Jahr ein Drittel mehr Anmeldungen hat als 2010, wurde die Veranstaltung hierhin verlegt. "Da hätte das Audimax nicht ausgereicht", sagt Uni-Sprecherin Regina Eckhoff.
Nie zuvor haben sich so viele Leute in Deutschland immatrikuliert. Bis zu 500.000 Studienanfänger belegen ab Montag Seminare und Vorlesungen. Den Rekord haben die Hochschulen der Kürzung der Schulzeit bis zum Abitur auf 8 Jahre und der Aussetzung der Wehrpflicht zu verdanken. Im Ergebnis erhalten in 10 Bundesländern bis 2016 jeweils zwei Jahrgänge gleichzeitig ihre Hochschulzugangsberechtigung. "Das System ist überdehnt. Die Hochschulen hatten nicht genug Zeit, sich für diesen Ansturm organisatorisch zu rüsten", meint Christian Berthold vom Centrum für Hochschulentwicklung, einer Beratungsgesellschaft für Hochschulen.
Die Angestellten in den Immatrikulationsbüros wissen wenige Tage vor Semesterbeginn immer noch nicht genau, wie viele Studienanfänger tatsächlich kommen. "Ich habe noch nie so ein absurdes Zulassungsverfahren erlebt", berichtet Christina Vocke, Dezernentin für studentische Angelegenheiten der Universität Bremen.
Die Mitarbeiter haben gerade die vierte Tranche an Zulassungen verschickt. Die Zahl der Bewerber sei wahnsinnig hoch, allerdings würden viele ihren Platz in Bremen gar nicht einnehmen. Gründe sind aus Sicht der Dezernentin, dass der Start des zentralen Zulassungsverfahrens geplatzt ist und die Berichterstattung über das erwarte Chaos. "Viele junge Leute waren verunsichert und haben sich daher an etlichen Hochschulen gleichzeitig beworben", meint Vocke.
Bis 2015 sollen 500.000 zusätzliche Studienplätze entstehen. Der Bund finanziert diese mit maximal 4,9 Milliarden Euro, die Länder sollen die Plätze mit etwa der gleichen Summe ausfinanzieren. Bei Nichterfüllung muss das Geld zurückgezahlt werden.
Die westdeutschen Bundesländer, in denen besonders viele Abiturienten erwartet werden, müssen Tausende zusätzliche Studienplätze schaffen.
Die Stadtstaaten, die bereits in der Vergangenheit für andere Bundesländer Akademiker ausgebildet haben, bekommen sogenannte Halteprämien. Dies Prämie wird auch den ostdeutschen Bundesländern gezahlt, deren Bevölkerung schrumpft. (ale)
Zusätzliche Studienplätze
Das sogenannte Dialogorientierte Serviceverfahren soll zentral und online erfassen, wer sich um zulassungsbeschränkte Studiengänge bewirbt. Solange es nicht läuft, kann eine Bewerberin theoretisch mehrere Studienplätze gleichzeitig blockieren, ohne dass die Hochschulen das mitkriegen. Also rüsteten sich Bund und Länder in der Vergangenheit auf Basis statistischer Orakel für den erwarteten Ansturm und schlossen 2007 einen Hochschulpakt für zusätzliche Studienplätze.
So hat Bayern frühzeitig angefangen, in Personal und Beton zu investieren. Die Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) hat 161 neue Stellen in Wissenschaft und Verwaltung sowie 30 zusätzliche Professuren erhalten. Über 1.700 Studienanfänger finden damit in den nächsten zwei Jahren zusätzlich Platz an der LMU. Unter anderem im ehemaligen Universitätsarchiv, das zum Hörsaal umgebaut wurde. Eng wird es trotzdem: Die LMU ist für 30.000 Studierende ausgelegt, im Wintersemester 2010 waren bereits 47.000 eingeschrieben.
Das niedersächsische Kultusministerium rechnet mit 5.000 zusätzlichen Erstsemestern.
Die TU Braunschweig hat mit dem Geld aus dem Hochschulpakt 900 zusätzliche Plätze für Studienanfänger geschaffen und zwei Kinosäle als Hörsäle angemietet. "Zum ersten Mal werden große Veranstaltungen in einen zweiten Hörsaal übertragen", berichtet Sprecherin Eckhoff. Dank dieser Maßnahmen kann die Hochschule vorerst auf Nachtveranstaltungen und Wochenendseminare verzichten.
Die Grenze des Machbaren
Die niedersächsischen Doppeljahrgänge schwappen auch in die Enklave Bremen über, wo keine Studiengebühren anfallen. "Für das kommende Wintersemester gab es mit 32.000 Bewerbungen einen bisher nicht gekannten Ansturm", sagt Vocke. Die Bremer Universität stellt für Erstsemester im Grundstudium 4.000 Plätze, 10 Prozent mehr als 2010, bereit. "Damit geht die Universität an die Grenze des Machbaren. Für weitere Studienplätze fehlen das Personal und die Infrastruktur", sagt Vocke.
Bereits vor zwei Jahren habe man alle geeigneten Räume auf dem Campus für Lehrveranstaltungen reserviert. "Selbst der Rektor kann keinen Raum belegen, wenn er einen Empfang ausrichten will, sondern muss sich Ersatz suchen."
Nordrhein-Westfalen erwartet im übernächsten Jahr 50.000 zusätzliche Studienanfänger, hat gleich vier neue Fachhochschulen gegründet und sich damit finanziell übernommen, wie Kritiker munkeln. Das Land steckt bis 2020 über 10 Milliarden Euro in Personal, Neubauten und Mieten. "Wir haben in diesem Jahr die Schallmauer geknackt und rechnen mit einem weiteren Anstieg unserer Studierendenzahl", berichtet Britta Jakob. Sie ist Sprecherin der neu gegründeten Hochschule Hamm-Lippstadt, wo 1.000 Studierende bis 2014 auf einem ehemaligen Kasernengelände und in den Büroräumen eines örtlichen Automobilzulieferers unterrichtet werden.
Dass es nach den doppelten Abiturjahrgängen wieder leerer in den Hochschulen wird, glaubt niemand so recht. Der Hannoveraner Präsident Barke rechnet damit, dass die Zahl der Bewerber im nächsten Jahr sogar steigt. "Viele Abiturienten haben sich in diesem Jahr Sorgen gemacht und beschlossen, noch ein Jahr mit dem Studium zu warten."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs