Überarbeitetes Konzept Bürgerversicherung: Klientelpolitik Marke SPD
Die SPD stellt ein weichgespültes Krankenversicherungs-Konzept vor. Wesentliche Forderungen der Parteilinken sind nicht mehr dabei.
BERLIN taz | Die SPD will mit dem Ausstieg aus der Zweiklassenmedizin die Bundestagswahl 2013 gewinnen – und muss dazu die gut verdienende Mitte als Wähler zurückholen. Also hat die Partei ihr Konzept der Bürgerversicherung klientelorientiert angepasst. Sie wagt dabei die Abkehr von urlinken SPD-Positionen.
Arbeitnehmer, die sehr viel verdienen, sollen deswegen nicht mehr automatisch höhere Krankenkassenbeiträge zahlen müssen. Und: Miet- und Kapitaleinkünfte sollen nun doch nicht bei der Festsetzung der Beiträge berücksichtigt werden. Am Montag verabschiedete das Parteipräsidium das Konzept ihrer Generalsekretärin Andrea Nahles und ihres Gesundheitsökonomen Karl Lauterbach.
Die Bürgerversicherung wäre nicht sehr viel kostengünstiger als das bestehende System, würde die Kosten aber wieder paritätisch zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern verteilen und wäre damit "gerechter", sagte Lauterbach. Dennoch würden die Arbeitnehmer bei diesem Modell – gemessen am Stand von heute – um etwa 5 Milliarden Euro entlastet. Die Arbeitgeber würden hingegen mit etwa 5 Milliarden Euro mehr belastet.
Bürgerversicherung: nicht viel günstiger, aber gleicher
Die SPD schafft das mit einem Kniff: Sie führt die "nominale Parität" ein. Diese bedeutet, dass insgesamt aus beiden Lagern zwar gleich viel Geld ins System fließt, allerdings zu unterschiedlichen Konditionen und Beitragssätzen.
Arbeitgeber würden einen Beitragssatz von 7,08 Prozent zahlen, allerdings bezogen auf das gesamte Gehalt ihrer Angestellten, also – anders als bisher – ohne Einkommensgrenze nach oben. Die Arbeitnehmer dagegen sollen durchschnittlich 7,6 Prozent ihres Bruttolohns zahlen. Für sie jedoch bleibt die Beitragsbemessungsgrenze, also die Höchstgrenze, ab der die Beiträge gedeckelt sind, bestehen. Derzeit liegt sie bei 44.550 Euro Jahresgehalt.
Dies ist eine Kampfansage an Unternehmen mit einer hohen Zahl an Spitzenverdienern. Außerdem ist es ein klares Zugeständnis an die gut verdienende Mitte der Arbeitnehmerschaft: Denn die wäre bei der bislang von der SPD angedrohten Anhebung oder gar Abschaffung der Bemessungsgrenze erheblichen finanziellen Zusatzbelastungen ausgesetzt gewesen. Davor soll sie nun verschont werden.
Nicht mehr dabei: Kapital, Mieten, Immobilen einbeziehen
Auf der Strecke bleibt auch die Kernforderung der SPD-Linken, Kassenbeiträge nicht nur über die Gehälter zu finanzieren, sondern auch über Kapitaleinkünfte, Mieteinnahmen oder Immobilienbesitz. Denn die SPD hat jetzt ausgerechnet: Der bürokratische Aufwand, dieses Geld einzutreiben, lohne den Zusatznutzen nicht. Denn wer viel Kapital oder Häuser besitzt, der hat auch oft ein gutes Gehalt – und erreicht bereits so die Beitragsbemessungsgrenze.
Zusatzbeiträge sowie der Sonderbeitrag von 0,9 Prozent würden abgeschafft. Steigen müsste dagegen der Steuerzuschuss zur Krankenkasse, prognostiziert die SPD, und zwar von derzeit 15,3 Milliarden Euro um etwa 300 Millionen Euro pro Jahr. Im Gegenzug soll die Abgeltungsteuer, die auf Kapitalerträge und Veräußerungsgewinne erhoben wird, von derzeit 25 auf 30 Prozent erhöht werden.
Privatversicherte dürften in Altverträgen bleiben
Die Bürgerversicherung würde ab einem Tag X ohne Übergangsfrist gelten. Bislang gesetzlich Versicherte sowie alle neu Versicherten wären automatisch Mitglieder. Privat Versicherten würde ein Wechselrecht unter Mitnahme ihrer Altersrückstellungen eingeräumt, sie dürften aber auch in ihren Altverträgen bleiben. Die privaten Krankenversicherungen, so der Traum der SPD, dürften Neuverträge dann nur noch zu den Bedingungen der Bürgerversicherung anbieten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Jeder fünfte Schüler psychisch belastet
Wo bleibt der Krisengipfel?
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern