Über die Dankbarkeit: Eine Art Antigone-Fall
Gelten für alle die gleichen moralischen Erwartungen? Der Ethikrat und seine Gasthörer haben da eine eindeutige Antwort.
K ürzlich saß ich auf einer Bank und trank Kaffee, als der Ethikrat sich auf der Nachbarbank niederließ. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Sachen praktischer Ethik geben. Der Ratsvorsitzende zog ein Tablet aus seiner Tasche und baute es neben sich auf. „Ist es Ihnen recht, wenn wir zwei Gasthörer zuschalten“, sagte er, aber es war offenkundig keine Frage.
Auf dem Bildschirm erschien eine apfelbäckige alte Frau mit weißem Dutt und im Fenster neben ihr ein rundlicher Jungmann in einem karierten Hemd. Die apfelbäckige Frau winkte mit einer Stricknadel, der Jungmann nickte verlegen. „Frau Gräff schildert uns in der Regel eine Begebenheit, zu deren Einordnung sie unsere Sicht einholen möchte“, sagte der Ratsvorsitzende. „Genau, unterbrach ich ihn, denn ich hatte gerade eben wieder die Grenzen meiner eigenen Einordnungsmöglichkeiten erfahren.
Ich hatte versucht, Geld beim Bankautomaten abzuheben, aber der Dispo war erschöpft und ich bekam kein Geld. Als ich mich umdrehte, stand eine kleine, untersetzte Frau mit langen grau-blonden Zöpfen und einer Eulenbrille neben mir und frage mich, ob ich Geld für sie hätte. „Ich bekomme keines von der Bank mehr und muss mit dem, was ich noch dabei habe, etwas bezahlen“, sagte ich. „Aber wenn etwas übrig bleibt, komme ich zurück.“
Ich ging und bezahlte im Laden um die Ecke einen Strauß für eine frisch gebackene Mutter; es blieben vier Euro übrig. Ich ging zur Bettlerin zurück, die noch beim Bankautomaten stand und gab ihr zwei Euro, womit sie unzufrieden schien. Ich wies sie darauf hin, dass es immerhin die Hälfte dessen sei, was ich hätte.
„Versuch doch noch einmal, Geld abzuheben“, sagte die Frau und drückte mir meine EC-Karte, die ich im Automaten vergessen haben musste, in die Hand. „Vielleicht ist sie eine Fee, nur anders anzusehen als üblich“, dachte ich, „vielleicht bekomme ich plötzlich Geld“ und steckte die EC-Karte in den Automaten. „Zu viele PIN-Eingaben“ erschien auf dem Bildschirm des Automaten und er spuckte die Karte aus. „Jemand hat es zu oft versucht“, sagte ich mit kritischem Unterton zu der Frau, die wohl doch keine Fee war. Sie schien unbeeindruckt und ich ging meiner Wege.
Der Lohn dafür, die eigenen Unzulänglichkeiten zu zeigen
„Ich sehe, dass sie nichts hat“, sagte ich in Richtung Ethikrat. „Und ich sehe, dass ich im Vergleich deutlich mehr habe. Und trotzdem finde ich, dass sie nicht honoriert hat, dass ich im Rahmen meiner Möglichkeiten geteilt habe.“ Während ich es sagte, kam es mir unsinnig vor: Wieso sollte sie auch? Der Ethikrat und die Gasthörer schwiegen. Danke, dachte ich, das ist der Lohn dafür, die eigenen Unzulänglichkeiten öffentlich zu machen.
Der Ratsvorsitzende begann mit einem Stock ein Bild in die Erde zu malen, es sah aus wie ein Huhn, das einen Wurm fraß. „Ich fragte mich, ob ich ihr überhaupt etwas vorwerfen kann“, sagte ich. „Und dann fragte ich mich, ob nicht auch Arroganz darin liegt, nichts von ihr zu erwarten.“ „Was meinen Sie?“, wandte sich der Ratsvorsitzende an die Gasthörer. Die apfelbäckige Frau sah von einem unförmigen Strickzeug auf. „Frau Gräff erinnert mich da an Kreon“, sagte sie. „Die Sympathien liegen eher bei Antigone.“
Der Jungmann meldete sich: „Mir scheint, dass Frau Gräff sehr stark absoluten Kategorien verhaftet ist“, sagte er. Und fügte freundlicherweise hinzu: „Ich kann mir da natürlich kein allgemeines Urteil erlauben.“
Der Ethikrat schont mich selten und die Gasthörer schienen ihm da gute Schüler zu sein. Ich war also Kreon, der König, der das Gesetz über alles stellt, auch über das Leben seiner Nichte, die doch nur den toten Bruder bestatten will, der gegen Kreon aufbegehrt hat.
„Wer sagt uns Kreons, wann sie ein Antigone-Szenario antreffen und wann nicht?“, fragte ich in Richtung Strickzeug. Aber da verflackerte das Zoom-Treffen und der Ethikrat begann ein ungelenkes „Himmel und Hölle“-Hüpfspiel, zu dem er mich nicht einlud.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!