: Über Freude
Francesca Melandri ermutigt zu freudvollen Visionen. Gerade in schweren Zeiten entfaltet sich oft eine visionäre Kraft, denn sie steht im Verhältnis zur Schwere der Fesseln, die es abzuwerfen gilt
Essay Vor einigen Jahren lud eines der größten Literaturfestivals Italiens jährlich zwölf verschiedene Autoren ein, einen Vortrag über eine von zwölf Emotionen zu halten. Zur dritten Ausgabe wurde auch ich eingeladen und entschied mich für Freude. Die Antwort der Organisatoren lautete: „Wir sind dankbar, aber auch überrascht. Autoren wählen immer Wut, Neid, Stolz, Scham usw. Freude ist ausnahmslos die letzte Emotion, die ausgewählt wird. Niemand will jemals darüber sprechen!“
Seit Langem ist westliches progressives Denken gleichbedeutend mit „kritischem Denken“: Ein öffentlicher Intellektueller zu sein – was auch immer das im Zeitalter der Tiktok-Influencer meint – bedeutet, jemand zu sein, der (schlechte Dinge) kritisiert. Das Ausdrücken von Wertschätzung oder sogar – Gott bewahre! – Begeisterung (für gute Dinge) ist seit Langem untrennbar mit Unkultiviertheit, Naivität, ja sogar Dummheit verbunden.
Ich verstehe das: Über dunkle, negative Emotionen zu schreiben, ist äußerst interessant. Freude hingegen kann so kitschig, so banal, so … kleinbürgerlich sein. In der Politik kann Freude eine verdächtig manipulative Idee sein: Geht es bei totalitärer Propaganda nicht um eine vorgetäuschte kollektive Freude, die die Realität von Gewalt und Unterdrückung verschleiert? Und ist eine unechte, künstliche Freude nicht genau das, was Konsumenten von der Werbeindustrie eingetrichtert wird?
Es gibt gute Gründe dafür, dass sich progressives Denken auf Kritik konzentriert, auf das, was wir nicht wollen. Das hat jedoch zu einem Verlust der Fähigkeit geführt, Visionen zu entwickeln und uns vorzustellen, was wir WIRKLICH wollen. Und ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, dass dies auch ein Zeichen für die historische und geografische Ausnahme ist, in die wir das Glück hatten hineingeboren zu werden: unsere friedlichen, wohlhabenden westlichen Gesellschaften. Nichts trübt die Fähigkeit, sich freudigere Welten vorzustellen und dabei glaubwürdig zu sein, mehr als relativer Wohlstand. Heute bröckelt diese historisch außergewöhnliche Konstellation, die wir fälschlicherweise für normal hielten. Unsere Welt wird aus den Angeln gehoben – oder, wie man auch sagen könnte, aus ihrer Heuchelei und Selbstgefälligkeit. So scheint die Ausübung von Kritik wichtiger denn je. Und doch möchte ich Ihnen von Ventotene erzählen.
Ventotene ist ein winziger wunderschöner Fleck Land, eine Insel umgeben von kobaltblauem Wasser, einige Stunden mit dem Boot von der italienischen Küste entfernt, auf halbem Weg zwischen Rom und Neapel. Das faschistische Regime verbannte dorthin viele seiner Gegner für Jahre unter erbärmlichen Bedingungen. Im August 1941 geschah etwas Außergewöhnliches: Die auf der Insel internierten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi, Ursula Hirschman und Eugenio Colorni verfassten das sogenannte Manifest von Ventotene (die Frau wurde natürlich nie für ihren wesentlichen Beitrag gewürdigt). Der Titel lautete: „Für ein freies und vereintes Europa. Ein Entwurf für ein Manifest“. Darin plädierten sie für „die endgültige Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten aufteilen“. Sie legten den ideellen Grundstein für jene postnationale Einheit, die wir heute als Europäische Union bezeichnen.
Betrachten wir den Kontext: Während sie Institutionen erdachten, die weit über die damals einzigen Modelle – Nationalstaaten und Kolonialreiche – hinausgingen, was geschah in der Welt um sie herum? Die Wehrmacht hatte gerade die Stadt Kamianez-Podilskyi in der Westukraine erreicht und dort 23.600 Juden massakriert, nur einen Monat vor dem noch größeren Massaker von Babin Yar am Stadtrand von Kiew. Die Todesmaschine des Holocaust lief auf Hochtouren.
Im Manifest von Ventotene heißt es: „Ein freies und vereintes Europa ist die Bedingung für die Verbreitung der modernen Kultur, deren Entwicklung die totalitäre Epoche aufgehalten hat. Sobald diese zu Ende geht, wird der historische Prozess gegen soziale Ungerechtigkeit und Privilegien sofort wieder aufgenommen werden.“ Es könne keine gerechte Gesellschaft geben, die den Nationalismus nicht überwindet, sagt das Manifest von Ventotene. Ebenso wenig könne es ein vereintes föderales Europa geben, das nicht auf sozialer Gerechtigkeit basiert. Der Vertrauensvorschuss, den diese Visionäre in Europas dunkelster Stunde zum Ausdruck brachten, ist nicht nur inspirierend – er ist atemberaubend. Umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Europäische Union heute Realität ist.
Ich muss nicht näher darauf eingehen, wie und warum die EU weit davon entfernt ist, diese Prinzipien zu verwirklichen, wie unvollkommen und enttäuschend sie ist, wie unfähig, gemäß den Idealen zu handeln, die sie zu vertreten vorgibt. Was die intellektuellen Helden von Ventotene im Sinn hatten, war sicherlich keine fremdenfeindliche Festung Europa, die ihre „Werte“ nur auf ihre hellhäutigen Bürger anwendet, während sie anderen ins Gesicht schlägt – oder sie sogar abweist.
Es war sicherlich nicht das beschämend zaghafte Europa, das zwei Jahre lang die genozidale Zerstörung in Gaza hingenommen hat, um dann zögerlich zu diskutieren, ob man vielleicht, möglicherweise, einige Sanktionen gegen Israel verhängen könnte. Es war sicherlich nicht das unentschlossene Europa, das den russischen Angriffskrieg fast vier Jahre lang schwelen ließ, indem es den ukrainischen Widerstand – der genau gegen solch eine nationalistisch-imperialistische Gewalt kämpft, wie sie 1941 den Planeten verdunkelte – nur tropfenweise versorgte.
Über das EU-Projekt als eine der revolutionärsten politischen Ideen zu sprechen, die je erdacht wurden, als das einzige aktuelle politische Modell, das sowohl die Zwangsjacke der nationalen Identität als auch den hegemonialen, kolonial-imperialistischen Noch-Rahmen überwindet, klingt heute genauso uncool, naiv, lächerlich und, ehrlich gesagt, irritierend, wie über Freude zu sprechen.
Und doch ist die Europäische Union in der Welt der transaktionalen Großmachtpolitik, in der unmoralische Tyrannen scheinbar das Sagen haben, immer noch das, was der Vision der antifaschistischen Träumer von Ventotene am nächsten kommt. Dass das Projekt der Europäischen Union das Potenzial hat, ein bahnbrechendes, sogar zivilisatorisches Projekt zu sein, wird von ihren Feinden verdeutlicht: Es gibt nichts, was Putin und Trump (ganz zu schweigen von J. D. Vance) mehr verachten als die Möglichkeit, dass eine wirklich demokratische, freie und sozial gerechte EU zu einem maßgeblichen Akteur auf der Weltbühne wird. Und das aus gutem Grund: Die EU – nicht die, die sie ist, sondern die, die sie sein könnte – ist das Gegenteil ihres autoritären, imperialistischen, nationalistischen, großmachtorientierten, antidemokratischen, plutokratischen, kolonialistischen, frauenfeindlichen, homophoben, transphoben, rassistischen und klassistischen Ideals. Das sollte uns zu denken geben.
„Ich habe einen Traum“: Nur der Anführer einer misshandelten und unterdrückten Minderheit, die für ihre Rechte kämpft, wie Martin Luther King Jr. konnte diese Worte glaubwürdig aussprechen. Ihre visionäre Kraft steht im Verhältnis zur Brutalität des Leidens, das sie zu überwinden versprachen. Vielleicht kann kollektive Freude nur von denen glaubwürdig erträumt werden, die etwas von Schmerz verstehen. Das haben Menschen in schrecklichen Zeiten immer getan. Sie haben nie nur gegen etwas gekämpft, sondern, was wichtiger ist, für etwas anderes. Sie haben nie nur die Ursache ihrer Unterdrückung kritisiert – sie waren immer auch damit beschäftigt, von der Freude zu träumen, die stattdessen kommen sollte.
Ich würde behaupten, dass die Zeiten, in denen wir leben, dunkel genug sind, um uns nicht nur zu zwingen, sondern uns auch die Fähigkeit zurückzugeben, zu träumen. Uns ohne Verlegenheit zu fragen: Wie könnte Freude aussehen? Wir könnten zum Beispiel alles nehmen, was diese faschistischen Autokraten an der EU hassen und fürchten, und zu unserer Leitlinie machen. Zu unserer Vision, was ein demokratisches, inklusives, auf Rechtsstaatlichkeit basierendes, freies und sozial gerechtes Europa sein könnte und werden sollte. Wir könnten endlich wieder anfangen zu fragen: Worum wollen wir kämpfen? Nicht nur wogegen, sondern, wichtiger noch, wofür?
Francesca Melandri, Drehbuchautorin, Schriftstellerin und Dokumentaristin, lehrt als Gastprofessorin italienische Literatur und Kultur an der ETH Zürich. 2024 erhielt sie den Bruno-Kreisky-Preis für ihr publizistisches Gesamtwerk. Zuletzt veröffentlichte sie den Roman „Kalte Füße“, der die Mitschuld der Italiener an faschistischen Verbrechen behandelt.
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen