Über Eingriffe ins Jagdwesen: Vom Leben der Prädatoren
Ist es richtig, dem eigenen Kater tatenlos beim Töten zuzusehen? Der Ethikrat ist der Frage gegenüber aufgeschlossen, aber an der Antwort gehindert.
D a die Ansprüche an Abendunterhaltung geringer geworden sind, gehe ich manchmal in der Dämmerung zum Altpapiercontainer. Es ist ein kluger Schachzug, denn das Altpapier gibt der Sache einen nützlichen Anschein, während ich an den Fenstern vorüberstreiche in der Hoffnung, anderer Leute Leben wie ein Bilderbuch betrachten zu können, das geschrieben wurde, als es noch keine Soundbücher gab.
Als ich um die Straßenecke bog, sah ich drei Schatten, die sich unter einen Fenstervorsprung duckten, und den Kopf eines dicken Mannes, der suchend nach draußen schaute. Die Schatten gehörten zum Ethikrat, dessen Vorsitzender den Zeigefinger vor den Mund hielt. Der Ethikrat, das sind drei ältere Männer von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in praktischer Ethik geben. „Haben Sie jemanden hier herumlaufen sehen?“, fragte mich der dicke Mann unwirsch. „Nein“, sagte ich und dachte, dass man den Einfluss des Ethikrats zweifelhaft nennen könnte.
Hinter der nächsten Ecke wartete ich und tatsächlich erschien der Rat nach fünf Minuten. „Wir haben eine Feldforschung mit Elementen der paradoxen Intervention aufgenommen“, sagte der Ratsvorsitzende und strich Erde von den Knien seiner Hose. „Wie interessant“, sagte ich. „Sicher sind das bemerkenswerte Begegnungen.“ – „Durchaus“, sagte der Ethikratsvorsitzende, aber er schien nicht gewillt, das Thema zu vertiefen. „Haben Sie eine Fragestellung für uns mitgebracht?“ – „Ja“, sagte ich, erleichtert, etwas parat zu haben und auch, weil ich mir von einer Antwort des Ethikrats häuslichen Frieden versprach. Als hätte ich vergessen, dass mich seine Antworten in der Regel ratlos hinterlassen.
„Kürzlich“, sagte ich, „erzählte mir mein Freund am Telefon, dass er beobachtet hat, wie unser Kater eine Maus gefangen und dann getötet hat. Ich fragte ihn, warum er nicht die Maus gerettet habe. ‚Es ist von der Natur so eingerichtet, dass der Kater jagt, warum sollte ich das unterbinden?‘, fragte mein Freund. ‚Weil es bitter für die Maus ist, mit der er noch ewig spielt‘, sagte ich. ‚Es ist das Bedürfnis des Katers zu jagen‘, sagte mein Freund. ‚Dem kann er ja nachgehen, wenn man nicht daneben steht‘, sagte ich. Mein Freund sagte noch etwas über mein Nicht-Vegetarier-Dasein und wir schieden eher kühl.“
Das Leben auf Kosten anderer Säugetiere
„Ich habe noch meine Schwester, die Biologin ist, dazu befragt“, sagte ich zum Ethikrat. „Sie sagte, dass die Natur ein System geschaffen hat, in dem es Prädatoren gibt und solche, die in der Nahrungskette weiter unten stehen. Und dass wir Menschen in der Zivilisation uns nicht mehr klar machen müssen, dass wir auf Kosten anderer Säugetiere leben.
„Was ist ein Prädator?“, fragte zu meiner Überraschung eines der Ethikratsmitglieder, das nie etwas sagte. Ich hatte es bis vor Kurzem auch nicht gewusst, aber jetzt konnte ich beiläufig sagen: „Es sind Fraßfeinde anderer Tiere, die eben nur auf Kosten dieser anderen existieren können.“ Meine Schwester hatte gesagt, dass sie es verständlich fände, dem Fraßfeindsystem in den Arm zu fallen, trotz allem. „Was denken Sie“, wandte ich mich an den Ethikrat. „Ist es sentimental und auch verlogen, dem Kater die Maus abzujagen?“
„Die Perspektive Ihrer Schwester ist natürlich erst einmal eine rein naturwissenschaftliche“, sagte der Ratsvorsitzende, und ich dachte, dass auch der Ethikrat nicht frei von Platzhirschgebaren sei. Außerdem schätze ich es nicht, wenn jemand, der nicht ich ist, meine Schwester kritisiert. „Meine Schwester denkt durchaus interdisziplinär“, begann ich, aber da näherte sich ein Schatten, der sich als der dicke Mann von vorhin entpuppte.
„Wir vertagen uns“, murmelte der Ratsvorsitzende und dann nahm sich der Rat an der Hand und rannte in einer Dreierkette davon. Ich sah ihn laufen und dachte mit Wohlgefallen zurück an mein letztes Treffen mit dem Kater, als ich ihm schnell, sehr schnell eine Maus abjagte.
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