US-Professorin über USA-Auswanderung: „Man spürt die Gewalt in der Luft“
Marci Shore ist renommierte Professorin der Yale University. Jetzt wandert sie nach Kanada aus. Ein Gespräch über Feindeslisten, Waffengewalt und Schuldgefühle.
taz: Frau Shore, Donald Trump sagte letzte Woche, dass die US-amerikanischen Unis seiner Macht nachgeben würden. Hat er recht?
Marci Shore: Die Kapitulation der Columbia University war für alle anderen Hochschulen sicherlich demoralisierend. Columbia ist eine große, starke Universität, kapitulierte aber angesichts des ersten großen Angriffs vonseiten der Regierung, der Festnahme des propalästinensischen Studenten Mahmoud Khalil, trotzdem sehr schnell. Das ist ein sehr düsteres Zeichen. Gleichzeitig weiß ich, dass viele meiner Kollegen an anderen Universitäten, zum Beispiel in Indiana, wo ich früher lehrte, wirklich Widerstand leisten.
taz: Wie zum Beispiel?
Shore: Jeff Isaac, Professor für Politikwissenschaft, unterzeichnete zusammen mit mehr als 30 weiteren jüdischen Fakultätsmitgliedern einen Brief, worin die Universität aufgefordert wird, die freie Meinungsäußerung zu schützen. Michael Thaddeus, Mathematikprofessor an der Columbia, war einer unter mehreren Dutzend Fakultätsmitgliedern, die eine Kundgebung abhielten, um gegen die Zustimmung der Universität zu den Forderungen der Trump-Regierung zu protestieren. Deshalb würde ich unterscheiden zwischen den Lehrenden und den Verwaltungen der Universitäten. Ich neige dazu, den Univerwaltungen gegenüber sehr kritisch zu sein. Vielleicht ist das nicht ganz fair, weil ich selbst administrative Aufgaben immer vermieden habe.
taz: Sie sind Professorin für europäische Ideengeschichte an der Yale University. Gemeinsam mit Ihrem Mann, dem renommierten Yale-Historiker Timothy Snyder, und dem Yale-Philosophen Jason Stanley haben Sie aber beschlossen, sich freistellen zu lassen und ins kanadische Toronto zu ziehen. Warum?
Shore: Es war keine einfache Entscheidung. Yale ist eine ausgezeichnete Universität, und ich bin sehr dankbar für meine Zeit dort. Gleichzeitig gibt es viele Gründe, die nicht nur Toronto im Allgemeinen, sondern insbesondere die Munk School of Global Affairs an der University of Toronto besonders attraktiv machen. Es wird interdisziplinäre Forschung gefördert, die sowohl wissenschaftlich als auch öffentlichkeitswirksam ist.
taz: Trump hat also keine große Rolle gespielt?
Shore: Wir haben auch vor der Wahl schon Pläne gehabt, Yale zu verlassen. Ich wollte unsere Kinder aus den USA rausbringen, bevor sie in die Highschool kommen, die beiden sind jetzt zwölf und 14. Das Problem ist die Waffengewalt. Sandy Hook, wo 2012 bei einem Amoklauf in einer Schule 28 Menschen starben, ist nicht weit von Yale entfernt. Und Waffengewalt wird seit Beginn dieser Trump-Amtszeit noch mehr geduldet. Ich glaube, für Europäer:innen ist schwer zu verstehen, wie normalisiert die Waffengewalt in den USA ist. Die Zahl der Waffen pro Kopf ist in den USA höher als irgendwo sonst auf der Welt. Sie liegt bei mehr als einer Waffe pro Person. Man spürt die Gewalt in der Luft. Deshalb habe ich nicht nur Angst um meine Kinder, sondern auch vor einem Bürgerkrieg.
taz: Glauben Sie, Ihre Kinder wären in der kommenden Zeit besonders betroffen?
Shore: Timothy ist viel weniger nervös als ich, aber Trump hat eine Feindesliste. Ich kann natürlich nicht wissen, was genau passieren wird. Als Historikerin habe ich aber den Totalitarismus erforscht, und ich weiß, was eine Feindesliste bedeutet. Ich möchte nicht, dass meine Kinder mitansehen müssen, wie ihre Eltern angegriffen werden.
Jahrgang 1972, ist Professorin für europäische Ideengeschichte an der Yale University. Sie forscht unter anderem zu Totalitarismus und Osteuropa.
taz: US-amerikanische Universitäten gehören zu den besten der Welt und sind Symbole der Wissenschaftsfreiheit. Wie können die sich so leicht einschüchtern lassen?
Shore: Institutionen handeln immer im Interesse des Selbsterhalts. Und die Unis sind große Institutionen. Ich bin eine entfremdete, wurzellose, kosmopolitische Jüdin. Ich habe nie eine Bindung zu einer Institution an sich gespürt. Hannah Arendt hat einmal geschrieben, dass sie kein Volk, sondern nur ihre Freunde liebe. Und so ähnlich fühle ich Loyalität nur meinen Studierenden, meinen Kolleg:innen und einzelnen Menschen gegenüber. Ich habe einen Brief jüdischer Lehrender verschiedener Institutionen unterzeichnet, die gegen die Inhaftierung von Mahmoud Khalil protestieren. Eigentlich hasse ich es, offene Briefe zu unterschreiben, weil ich ein Kontrollfreak bin und jedes Wort selbst wählen will. Und ich engagiere mich sehr selten ausdrücklich als Jüdin – aber in diesem Fall war es mir wirklich wichtig. Das Regime nutzt den unaufrichtigen, zynischen Vorwand, uns vor Antisemitismus zu schützen, als Rechtfertigung für das Verletzen der Rechte anderer Menschen. Wenn wir als Juden das zulassen, dann haben wir uns moralisch ruiniert.
taz: Haben Sie Angst um Ihre eigenen Studierenden?
Shore: Ende Februar habe ich nachgefragt, wie es allen geht. Ich traf die jungen Leute auf dem Campus, in der Mensa, beim Spazierengehen, in Cafés – an all den üblichen Orten. Jetzt habe ich dabei immer wieder die Bilder von Rümeysa Öztürk vor Augen, der türkischen Doktorandin an der Tufts University, die vor aller Augen auf offener Straße abgeführt wurde – wegen propalästinensischer Äußerungen. Seitdem frage ich mich immer: Was würde ich tun, wenn Regierungsleute kämen und eine der Studentinnen mitnähmen, mit denen ich gerade spreche? Würde ich versuchen, diese Männer wegzuziehen?
taz: Würden Sie?
Shore: Ich hoffe es, aber es wäre natürlich lächerlich, weil ich eine nicht besonders starke Frau mittleren Alters bin. Welche Chance hätte ich? Intellektuell traue ich mir zu, mutig zu sein, das ist meine romantisch-osteuropäische Art. Wenn es einem nicht wirklich wichtig ist, die Wahrheit zu sagen, dann sollte man gar nicht erst schreiben und unterrichten. Aber ich traue mir nicht zu, angesichts körperlicher Gewalt mutig zu sein.
taz: Fürchten Sie grundsätzlich eine Zunahme der Gewalt?
Shore: Während Trumps erster Amtszeit sagten die Leute immer wieder: Das ist schlimm, aber wir haben checks and balances, also Gewaltenteilung. Es war wie ein Mantra: einatmen, checks and balances, ausatmen, checks and balances. Dann hat Trump die Gewaltenteilung nach und nach abgebaut. Jetzt sagen die Leute: Die Gerichte werden ihn stoppen. Tatsächlich gibt es Richter, die der Regierung sagen, dass es so nicht geht. Aber Trump und seine Leute antworten: Fuck you, wir machen es trotzdem. Wer soll sie physisch davon abhalten? Sobald es keinen Rechtsstaat mehr gibt, wird Gewalt wahrscheinlicher. Und ich spüre das kommen. Wir haben es mit einem Regime zu tun, das sich von Gewalt angezogen fühlt.
taz: Der Philosoph Jason Stanley sieht in den USA derzeit den Faschismus am Werk. Teilen Sie diese Einschätzung?
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Shore: Mein Standpunkt unterscheidet sich nur geringfügig von Jasons. Diese Kategorien, die wir verwenden – Faschismus, Autoritarismus, Totalitarismus, Konzentrationslager, Völkermord und so weiter – sind hermeneutische und heuristische Mittel, die es uns ermöglichen, unterschiedliche Situationen zu vergleichen. Es gab den italienischen Faschismus, es gab den rumänischen Faschismus, es gab den Nationalsozialismus. Alle waren singulär. Trotzdem ist der Begriff Faschismus gut geeignet, um die Situation in den USA zu verstehen. Auch wenn von zwölf Hauptmerkmalen des Faschismus nur zehn, neun oder acht zutreffen.
taz: Was passiert, wenn Leute wie Sie, die die Menschen über autoritäre Entwicklungen aufklären können, das Land verlassen?
Shore: Ich fühle mich unglaublich schuldig deswegen. Ich fühle mich, als würde ich abhauen. Ich fühle mich in gewisser Weise als neurotische Jüdin, die an 1933 denkt: besser früher das Land verlassen als später. Und ich sehe die Wut, die so viele meiner ukrainischen Freund:innen und Kolleg:innen auf die russische Opposition hatten, die geflohen ist. Sie haben alles gegeben und sind gescheitert. Und dieses Versagen ist vielleicht unverzeihlich und unheilbar, aber sie mussten raus aus dem Land. Ich habe definitiv das Gefühl, dass ich nicht besser bin als sie. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich unter allen Umständen heldenhaft bleiben würde. Ich werde aber meine Doktorand:innen nicht im Stich lassen, ich werde sie bis zum Abschluss ihres Studiums beraten. Ich werde nicht damit aufhören, die Nachrichten der Studierenden zu beantworten, die sich an mich wenden. Ich habe also nicht vor zu verschwinden. Ich möchte weiterhin präsent sein, aber ich fühle mich sehr schuldig. Es ist ein moralisches Dilemma.
taz: Sie sind Expertin für die Geschichte Osteuropas. Um einmal Lenin zu zitieren: Was tun?
Shore: Ich denke immer wieder, dass wir etwas übersehen haben müssen. Es kann nicht sein, dass die Bösen gewinnen – nach allem, was wir aus der Geschichte gelernt und verstanden haben. Wir unterwerfen uns einfach dieser Tyrannei, Trump und Putin übernehmen die Welt. Mir fehlen die Worte, um diese Art von Groteske zu beschreiben. Der Medienaktivist Tucker Carlson, der republikanische Abgeordnete Lindsey Graham, Außenminister Marco Rubio: Ich glaube, die wissen alle genau, was sie tun. Das sind faustische Figuren. Meine neue Idee ist, ein Seminar über fiktive und nichtfiktive Versionen von „Faust“ zu organisieren. Ich denke immer wieder an Lindsey Grahams Aussage nach dem Treffen Trumps mit Wolodymyr Selenskyj im Oval Office: „Donald Trump hat uns gerade eine Lehrstunde darin gegeben, wie man für Amerika einsteht.“ Dabei war es eine Lehrstunde in moralischem Nihilismus. Und Grahams Verhalten war eine Lehrstunde darüber, wie man seine Seele dem Teufel verkauft. Vizepräsident J. D. Vance weiß möglicherweise gar nicht, was das Böse ist. Aber Lindsey Graham und Marco Rubio wissen es genau. Sie wissen, dass diese Politik falsch ist. Sie wissen, dass sie am Bösen beteiligt sind, und sie haben ihren Pakt mit dem Teufel geschlossen.
Transparenzhinweis: Der Autor ist der Familie Shore-Snyder seit 2013 persönlich verbunden.
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