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US-Jazz-Trompeter Wadada Leo SmithEine Rastarepublik der Improvisation

Dritter im Bunde der zweiten Freejazzgeneration: Beim Festival „MaerzMusik“ in Berlin kommen Werke des US-Trompeters Wadada Leo Smith zur Aufführung.

Wadada Leo Smith mit seinem Signaturinstrument Foto: Michael Jackson

Während die erste, um die Jahrzehntwende 1950er/60er bekannt gewordene Free-Jazz-Generation (u.a. John Coltrane, Albert Ayler, Archie Shepp, Don Cherry, Sun Ra oder Pharoah Sanders) mit Ausnahme von Cecil Taylor und Ornette Coleman eher Revolutionäre, Mystiker und Visionäre hervorbrachte, gab es in der zweiten, die Ende der 1960er auf sich aufmerksam machte, eine ganze Reihe Intellektueller. Diese haben sich von Anfang an auch an der akademischen Musikwelt kritisch abgearbeitet und sich nicht darauf beschränken wollen, als Instrumentalisten und Performer aktiv zu sein.

Man beanspruchte nun auch den Bereich der Komposition und der Partitur für sich, entwickelte musikalische Systeme und eigene Notationsformen und beschäftigte sich mit Musiktheorie und Geschichtsschreibung.

Nach Anthony Braxton (etwa 2019 mit dem, den ganzen Berliner Gropius Bau bespielenden Riesenwerk „Sonic Genome“ beim Jazzfest) und George Lewis (Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, oft in der Stadt und zum Beispiel 2021 auch als Kurator zum Thema Afrodiaspora beim Festival „MaerzMusik“ präsent), die in den letzten Jahren große Werke in Berlin aufführten, wird nun auch der dritte große Intellektuelle dieser zweiten Free-Jazz-Generation in der Stadt mit der Aufführung zweier Stücke aus diesem Jahr bei der „MaerzMusik“ als Komponist geehrt: Wadada Leo Smith.

Entscheidende Impulse aus Chicago

Allen dreien ist gemeinsam, dass sie das eingangs erwähnte Label („Free Jazz“) schon lange hinter sich gelassen haben. Dass sie entscheidende erste Anstöße aus der Szene in Chicago rund um das Art-Ensemble bekommen haben (sie sind alle Mitglieder der dort 1965 gegründeten AACM, Association for the Advancement of Creative Musicians – Lewis hat auch eine sehr lesenswerte Geschichte der Organisation geschrieben: „A Power Stronger Than Itself: The AACM and American Experimental Music“ (University of Chicago Press, 2008)).

Werke von Wadada Leo Smith bei „MaerzMusik“ Berlin

„The Flight of the Eagle: The Sonic Memorial of Jiddu Krishnamurti“, 28.3. 2025 Silent Green, Berlin

„The Celebration of Unity with the Indigenous People’s Nations Across the USA“, 29.3. 2025 ebenda

Selbstorganisation war ihnen stets wichtiger als Verträge mit der Musikindustrie. Und obwohl alle herausragende Instrumentalisten, war ihnen allen wichtig, dass sie sich eben nicht nur als Saxophonisten (Braxton), Posaunisten (Lewis) oder Trompeter (Smith) betätigen, sondern auch als musikalische public intellectuals.

Genau wie Braxton hat auch Smith seine eigene Notationsmethode entwickelt, die er schon früh zum Einsatz gebracht hat. Das „Ankhrasmation“ getaufte System bezieht sich auf das altägyptische Wort/Zeichen für Leben (Ankh), den äthiopischen „Anführer“ (Ras) und die globale Mutter (Ma).

Ein multiafrozentrischer Ansatz

Dieser, wenn man so will, multiafrozentrische Ansatz, also ein sich auf verschiedene afrikanische Kulturen und Traditionen beziehendes Verständnis, prägt viele seiner Titel und Inhalte, hindert ihn aber nicht, Kulturen und vor allem Musiker_innen aus aller Welt einzubeziehen: darunter etwa auch DDR-Free-Jazz-Größe Günther „Baby“ Sommer oder Elton Dean von Soft Machine, die großen Alten aus Chicago wie Malachi Favors, Leroy Jenkins oder Roscoe Mitchell und immer wieder Marion Brown, Andrew Cyrille, Anthony Davis, Braxton, aber auch Vijay Iyer und Peter Kowald aus Wuppertal.

Mittlerweile ist seine Hauptband, The Golden Quartet, komplett verjüngt worden, aber persönlich wird der 83-Jährige bei der „MaerzMusik“ gar nicht anwesend sein. Seine grafischen Notationen unterscheiden sich stark von etwa Braxtons, bei dem Ziffern, Wege, Vektoren die entscheidende Rolle spielen.

Bei Smith sind dagegen Farbigkeit und fast bildkompositorisch zu verstehende, mit der Fläche arbeitende Konstellationen wichtig. Andererseits besteht er darauf, dass es sich eher um eine Sprache bzw. Schrift („language signs“) handelt als um „Graphik“. Überhaupt ist es nicht nur Smith selbst, sondern auch die verblüffende, hörbare Kontinuität seiner ästhetischen Absichten, die den bei seiner Musik besonders viel diskutierten Unterschied zwischen „improvisierten“ und „interpretierten“ Stücken schrumpfen lässt.

Frühes Meisterwerk „The Bell“

Der Kunstkurator und Jazzautor Hamza Walker hat sich lange mit Smith' frühem Meisterwerk „The Bell“ beschäftigt, das 1968 mit Muhal Richard Abrams, Leroy Jenkins und Anthony Braxton auf Braxtons „3 Compositions of New Jazz“ erscheint. Danach hörte er sich die Streichquartette an, die Smith viel später komponiert hat, und ihm fiel auf: „The Bell“ ist – strukturell – genau ein solches Streichquartett.

Aber „The Bell“ korrespondiert in seinem Interesse an den nichtlinearen, Bögen und Rundungen beschreibenden Klangbewegungen und abrupt auftauchenden Klangfarben auch mit dem brandneuen, bei „MaerzMusik“ im Programm stehenden, für westafrikanische, amerikanisch indigene und tibetische Percussion komponierten „The Celebration of Unity with the Indigenous People’s Nations Across the USA“.

Glocken blieben also auch ein Thema in den letzten fast sechs Jahrzehnten. Aber auch die entspannt entschiedene Organisation der Musik, nicht unbedingt ein Markenzeichen seiner damaligen Mitstreiter, teilt frappante Ähnlichkeiten mit seiner anderen neuen Arbeit, die nun bei „MaerzMusik“ aufgeführt wird: „The Flight of the Eagle: The Sonic Memorial of Jiddu Krishnamurti“ für 8 Trompeten und 4 Bassdrums (2024). Dass Trompeten einerseits gerne Flächen definieren, andererseits besonders geeignet sind, mit ihrem klanglich Anderen – zu Hektik neigenden Klangquellen: Drums, Electronica, E-Gitarren – zu interagieren.

Artistic Research

Soll ich Leuten, die nicht von der bildenden Kunst kommen, erklären, was es mit dem vor allem an Kunstunis seit einigen Jahrzehnten umkämpften Begriff der künstlerischen Forschung, des artistic research auf sich hat, liefert mir Wadada Leo Smith immer ein sehr gutes Beispiel für den Nutzen solcher Forschung.

1998 nahm er gemeinsam mit dem auch sonst stark an historischen Rekonstruktionen (dem musikalischen Äquivalent dessen, was in Kunst und Performance „Reenactment“ heißt) interessierten Gitarristen Henry Kaiser ein Doppelalbum mit dem Titel „Yo! Miles“ auf. In relativ großer Besetzung rekonstruierten die beiden die elektrische Phase von Miles Davis. Viele der Aufnahmen aus dieser Zeit enthielten ja vom Produzent Teo Macero aus Live- und Studio-Aufnahmen vorgenommene, oft abrupte Schnitte.

Manchmal war zwischen komponiert-konstruierten, akut-improvisierenden und skulptural-gedacht collagierten Teilen nicht zu unterscheiden. Die spielende Rekonstruktion bringt die musizierenden Körper zurück und verschafft Musiker_innen wie Zuhörer_innen die Möglichkeit, sich auch erneut in den Status der Entscheidungen, die dem Original zugrunde lagen, gegebenenfalls anders einzufühlen: Vom körperlichen Nachspielen aus lässt sich die Natur des Macero-Schnitts besser im Verhältnis zu den anderen kompositorischen Maßnahmen von Miles Davis verstehen und einstufen.

Wie Schnitte an Teo Maceros Mischpult

Auch hier ist eine merkwürdige Dialektik zwischen Komposition und Improvisation am Werk, wie sie für Wadada Leo Smith von Anfang an entscheidend war. Denn die Schnitte, die Teo Macero macht, sind weder das eine noch das andere. Aber eben doch entscheidende strukturelle Eingriffe. Und genau dieser Punkt ist auch für Smith so wichtig: Es ist egal, in welcher Musiktradition wir diese Eingriffe vornehmen, aber es ist wichtig, dass sie eine Verbindlichkeit bekommen (nicht unbedingt, dass sie als Vorschriften daherkommen).

Die Untersuchung von Miles Davis war aber nur eine winzige Facette der zahllosen und stilistisch diversen Projekte von Smith, der eben schon seit den mittleren 1970ern auch an Hochschulen lehrt, zuletzt ein Fach, das sich „African American Musical Improvisation“ nennt, an der Cal Arts. Improvisation ist laut Smith eher eine Art in der Welt zu sein, als eine Art zu spielen. In den Liner Notes zu dem alten Album mit Anthony Braxton, auf dem „The Bell“ zur Aufführung kommt, bekennen sich alle Musiker zu diesem neuen in-der-Welt-Sein, einem Modus, der für sie historisch nach dem „kompletten Zerfall westlicher Werte spielt“ (Braxton).

Das Mittel der Überwindung: das Kollektiv, die Gruppe. 47 Jahre später, bei einem Podium, das über 50 Jahre AACM diskutiert, ergänzt Smith: Ja, klar, das Kollektiv. Aber es muss ein Kollektiv sein, das sich keinen Verlust einer der beteiligten Individuen leisten kann. Er spitzt diesen Gedanken bei einer Ausstellung seiner Scores in Chicago auf die Forderung zu, dass das „letztlich die Art und Weise sei, wie unsere Republik funktionieren müsse, auch wenn sie das noch nie erreicht hat.“

Auf seiner Webseite fordert er Waffenstillstand überall: Ukraine, Gaza, West Bank, Sudan, Kongo und Myanmar. Welche Republik er meint, ist nicht ganz klar, aber die Redeweise – „our republic“ – lässt auf die USA schließen (von 2015 aus gesehen).

Zugleich schreibt er Hommagen an den schrägen indischen Weisen Krishnamurti und bekennt sich zum Rastafarianismus und hat damals für seinen Band-cum-Workshop Creative Construction Company mit all den Weggefährten der ersten Jahre, den Begriff der Kreativität in den Ring geworfen: Nicht gerade eine unabgewetzte Begriffshülle, mit der er aber mehr und anderes verbindet als der neoliberale Jargon. Zuletzt hat Smith aber darüber wieder versucht, die Integration zu beschreiben, die seine Musik anstrebt: Republik, Esoterik, Repatriation? Eine sehr großzügig entspannte Musik, die sich auch große kognitive Dissonanzen erlaubt – und so klingen soll, dass wir das Gefühl haben, nicht auf eine davon verzichten zu können.

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