US-Beschluss zu Kabuls Auslandsreserven: Biden eint zerstrittene Afghanen
In Afghanistan lehnen alle politischen Lager den Beschluss des US-Präsidenten ab, die Hälfte der eingefrorenen afghanischen Gelder nicht zurückzugeben.
Und das ausgerechnet dann, wenn Afghanistan gerade dringend jeden Dollar braucht, weil laut UNO neun Millionen Menschen „nur einen Schritt vom Hunger entfernt“ sind. „Leute verkaufen ihre Organe. Leute verkaufen ihre Kinder. Sie sind verzweifelt“, sagt der UN-Hilfskoordinator Ramiz Alakbarov in Kabul.
Selten war sich die afghanische Öffentlichkeit im Land wie im Exil so einig wie in der Bewertung von Bidens Verfügung. Chalid Pajenda, letzter afghanischer Finanzminister vor der Machtübernahme der Taliban an diesem Dienstag vor genau einem halben Jahr, spricht vom „schwersten und irreparablen Schlag für Afghanistans Wirtschaft“.
Eine Gruppe von über 100 exilierten afghanischen Frauenrechtlerinnen schreibt in einem Brief an Biden, sie betrachteten dessen Maßnahme als „extrem unfair“. Selbst die in Kabul immer wieder mutig gegen die Taliban protestierenden Frauen fordern: „Beendet das Einfrieren!“
„Rache der USA für den verlorenen Krieg
Ähnlich äußern sich Beobachter und humanitäre Helfer. „Das ist nicht das Geld der USA, sondern der hungernden Afghan:innen“, sagt Jan Egeland vom Norwegischen Flüchtlingsrat, einer großen Hilfsorganisation in Afghanistan.
Die Londoner Terrorismusforscherin Ashley Jackson spricht von „ökonomischer Kriegführung gegen Afghanistan“. Für Anders Fänge (Schwedisches Afghanistan-Komitee) ist es „nicht schwer, die Gefühle vieler Afghan:innen zu verstehen, die sagen, die USA haben den Krieg verloren und rächen sich jetzt dafür an ihnen“.
Der New Yorker Professor Barnett R. Rubin, Afghanistan-Berater mehrerer US-Regierungen, meint, das reichste Land der Erde beraube jetzt das ärmste im Namen der Gerechtigkeit. Selbst Bidens Botschafterin für Frauen- und Menschenrechte in Afghanistan, die dort geborene Rina Amiri, kritisiert den Präsidenten und spricht von „einem schlechten Tag für Afghan:innen“.
Biden verspielt gerade den letzten Rest von Hoffnung unter den Afghan:innen, dass sie vom Westen Hilfe erwarten können. Die Taliban wird’s freuen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“