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■ StandbildTyrannei der Intimität

„Fliege“, Montag, 15.30 Uhr, ARD

„Heute dominiert die Anschauung, Nähe sei ein moralischer Wert an sich (...) Es dominiert der Mythos, demzufolge sich sämtliche Mißstände in der Gesellschaft auf deren Anonymität, Entfremdung, Kälte zurückführen lassen. Aus diesen drei Momenten erwächst eine Ideologie der Intimität“, hat Richard Sennett in seiner brillanten Studie „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ geschrieben. Wie die Show zu Sennetts Buch wirkt die neue tägliche ARD- Talk-Runde „Fliege“ mit dem gleichnamigen Moderator, einem beurlaubten evangelischen Pfarrer aus Berlin.

Jürgen Fliege wandert mit seiner Sendung im finsteren Tal von Hans Meiser und Ilona Christen, die den Öffentlich-Rechtlichen im vergangenen Jahr im Nachmittagsprogramm herbe Quoteneinbrüche beschert haben.

Von den RTL-Quasselstunden unterscheidet sich Jürgen Fliege nur durch die salbungsvoll-pastorale Art, mit der er seine Gäste befragt – bei der Premiere am Montag zum immer aktuellen Thema „Transsexualität“. Fast mit Händen zu fassen war da die wohlige Atmosphäre von menschlicher Wärme, Verständnissinnigkeit und tiefempfundener Toleranz, in der Fliege seine geschlechtsumgewandelten Talk-Gäste mehr umsorgte als befragte („Warst du schon mal im Fernsehen?“ – „Hast du jetzt Lampenfieber?“).

Auch die Fragen aus dem Publikum hatten diese Anmutung von Siebziger-Jahre-Selbsterfahrungsgruppe: „Ich finde das gut, daß Sie sich in diese Sendung wagen“, bekamen die Transis zu hören, bevor sie über ihre Erfahrungen auf Herrentoiletten zur Rede gestellt wurden. Die ehrlichen Antworten wurden dann auch mit echt herrlichem, menschenfreundlichem Applaus bedacht. Das muß Richard Sennett gemeint haben, als er seinem Buch den Untertitel „Die Tyrannei der Intimität“ gegeben hat.

Pfarrer Fliege waren die „Männer, die im Körper einer Frau geboren wurden“, aber auch ein Gleichnis: Irgendwie leben wir doch alle in ungastlicher Fremde und können uns darum ein Beispiel an den Transsexuellen nehmen, die sich „auf den Weg gemacht haben, um irgend was zu finden, wo sie sich wohlfühlen“.

Amen, und schalten Sie auch morgen wieder ein, wenn Jürgen Fliege total viel Verständnis für ehemalige Prostituierte aufbringen wird. Tilman Baumgärtel

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