: Turnschuhe statt Thron
Die Gen-Z will ein anderes Nepal, weniger Korruption und mehr Mitsprache. Bei Protesten im September jagten junge Menschen den Premier aus dem Amt. Wie geht es jetzt weiter?
Aus Kathmandu Natalie Mayroth
Kathmandu ist wieder ruhig. Sieben Wochen nach dem politischen Umbruch in der jungen Himalaya-Republik erstrahlt die nepalesische Hauptstadt in festlicher Beleuchtung. Gassen sind von warmen Lichtern gesäumt, leichte Spuren von farbigem Sand erhellen noch immer einige Türschwellen. Doch hinter dem friedlichen Glanz brodelt es. Wird es friedlich bleiben oder steuert Nepal erneut auf eine Krise zu?
Nach dem großen hinduistischen Tihar-Fest scheint das Leben zwar wieder zur Normalität zurückgekehrt zu sein. Doch etwas ist anders: der Mut und die Auflehnung junger Nepales:innen, vor allem der Generation Z zwischen 13 und 28 Jahren. Sie haben es gewagt, sich zu erheben, um ein neues Nepal zu fordern. Den ersten unerwarteten Erfolg konnten sie verbuchen: Die Regierung wurde gestürzt, das Parlament wurde aufgelöst und am 5. März nächstes Jahr soll es Neuwahlen geben. Doch der Weg zu fairen Wahlen dürfte nicht einfach werden. Denn nach dem 8. und 9. September hat sich in Nepal viel verändert. An diesen Tagen erlebte das Land die heftigsten Proteste seit dem Ende der Monarchie 2008. Tausend junge Menschen rebellierten online und offline, verlangten Mitsprache.
Mittendrin: Samana Lawati. „Wir müssen optimistisch bleiben“, sagt die 28-Jährige. Die Mitbegründerin des „Indigenous Gen-Z Collective“ will Nepals politische Zukunft verändern, bevor alten Machtstrukturen wiedererstarken. Zu lange hätten dieselben Männer die Macht unter sich aufgeteilt. In dem Sturz der Regierung sieht Lawati eine Chance auf echten Wandel.
Die Unzufriedenheit erreichte ihren Höhepunkt, als die Regierung zahlreiche Social-Media-Kanäle sperrte, auf denen Korruption angeprangert wurde. Populär wurde auf Tiktok etwa der Hashtag „#Nepobaby“, der sich gegen die Sprösslinge der wirtschaftlich und politisch gut vernetzten Elite Nepals richtet. Die Sperrung wurde offiziell mit fehlenden Registrierungen begründet, inoffiziell ist klar: Es ging darum, Kritik zu unterdrücken.
Der darauffolgende Kampf der jungen Menschen für Wandel hat Spuren hinterlassen: Über 70 Tote hat er gefordert. Darunter laut nepalesischer Polizei: Demonstrant:innen, Gefangene und Polizisten. Eine weitere Spur ist der blutige Turnschuh, der an viele Wände im Land gemalt ist. Er wurde zum Symbol der September-Proteste und gehört einem der Demonstrierenden: Prakash Bohara, der vor dem Parlamentsgebäude bei den Antikorruptionsprotesten angeschossen wurde. Was in diesen zwei Tagen geschah, ist nicht vergessen.
Die vergangenen Wochen haben Lawati den Schlaf geraubt. Sie sitzt in einem Hinterhof in Lalitpur, im südlichen Zentrum des Kathmandu-Tals, unweit eines markanten Turnschuh-Graffitis und dem Schriftzug „Korruption kann nicht gedeihen“. Lawati blickt nach vorne. Nepal brauche Stabilität, sagt sie. Die junge Frau aus der indigenen sino-tibetischen Limbu-Gemeinschaft wirkt entschlossen und zugleich erschöpft. „Seit den Protesten lebe ich in einer Art Zwischenwelt“, sagt sie. Am 8. September schloss sie sich dem Protestzug in Maitighar im Zentrum von Kathmandu an. Niemand ahnte, dass Premierminister Khadga Sharma Oli (CPN-UML) so schnell von seinem Amt zurücktreten würde. Noch einen Monat zuvor war er nach China gereist, hatte Wladimir Putin und Vertreter der Kommunistischen Partei Chinas getroffen.
„Sein Rücktritt gab mir Hoffnung, dass sich etwas verändern kann“, sagt Lawati. Für ihre Generation sei es der erste kollektive Versuch, gegen Ungleichheit aufzustehen. Sie hat vom Tag des Protests Bilder im Kopf, die bleiben: „Ich erinnere mich, wie jemand in der Menge angeschossen wurde. Er brach zusammen, seine Freunde trugen ihn weg.“ Doch sie erzählt auch von anderen Szenen: eine Gruppe Schulmädchen mit Zöpfen und bunten Bändern im Haar, die mit lauten Stimmen Korruption anprangerten. „Es war, als ob eine ganze Generation endlich ihren Platz erobert“, sagt sie.
Gerade für die junge Bevölkerung – das Durchschnittsalter beträgt hier 25 Jahre – ist Repräsentation zentral. Nepal zählt rund 30 Millionen Einwohner, etwa ein Drittel gehört indigenen oder sprachlichen Minderheiten an. Neben Nepali sprechen viele eine sino-tibetische Sprache. Die meisten sind Hindus, doch auch Buddhisten, Muslime, Christen und Anhänger indigener Glaubenstradition prägen das Land.
Trotz dieser Vielfalt seien Frauen, Minderheiten und Menschen niedriger Kasten unterrepräsentiert, sagt Lawati. „In Gremien sitzen immer dieselben Männer“, sagt sie. Das zu ändern, ist ein Kernanliegen der Gen-Z-Aktivistin. Es gehe daher um mehr als nur einen Regierungswechsel, sondern um strukturelle Veränderungen.
Die September-Proteste eskalierten jedoch. Sie gipfelten in eine Sicherheitskrise: 15.000 Insassen entkamen aus Gefängnissen, nachdem Einrichtungen gestürmt und Feuer gelegt worden waren. Regierungsgebäude, Polizeistationen, Luxushotels, Parteibüros und Häuser von Politiker:innen brannten. Akten wurden zerstört und das Verwaltungssystem beschädigt. Wer dahinter steckt, ist noch unklar. Recherchen – etwa der New York Times – legen nahe, dass es sich um koordinierte Brandanschläge und nicht um spontane Handlungen junger Protestierender handelte. Möglich ist, dass Gruppierungen mit anderer Agenda als die Gen Z den Aufruhr ausnutzten, um Chaos zu stiften. Welche Gruppen das sein könnten, ist bislang unklar, vermutet werden etwa monarchistische oder rechte Kräfte.
Der geschasste Premierminister Oli gab die Schuld „externen Elementen“ und sprach von „Infiltration“, nannte aber keine weiteren Details. Unter seiner Regierung sei die öffentliche Ordnung besser gewesen als jetzt, sagt er. Eine Aussage, die nach Rechtfertigung klingt. Denn gegen ihn wird ermittelt, wie viel Verantwortung er für das Blutvergießen trägt.
Auch die Datenanalystin Sareesha Shrestha gehört zu denjenigen, die für ein freies Nepal auf die Straße gingen. Die Sperrung von Facebook, X und YouTube am 4. September hat etwas bei ihr ausgelöst. Die Frustration bei vielen sei groß, sagt die junge Frau, die die Proteste online dokumentierte. „Viele waren einfach so frustriert.“ Shrestha nutzt ihre Reichweite, um über die aktuelle Lage zu informieren und um zur Wahlregistrierung zu mobilisieren – damit das, was im September begann, nicht verpufft. „Als junge Generation haben wir etwas, worüber wir uns freuen können“, sagt sie. Auch wenn der Ausgang der Wahl ungewiss ist, hofft sie, dass der Widerstand eine Mahnung bleibt.
Auch der Jurist Abhi war unter den Demonstrierenden, bis ein Polizist eine Waffe auf ihn richtete. „Dann sind wir gerannt“, sagt er. Für ihn steht fest: Am ersten Tag versagte die Polizei, am zweiten hielten sich viele der Demonstrierenden nicht an Absprachen. „Wir wollten zeigen, dass Veränderung ohne Gewalt möglich ist.“ Aus diesem Grund hat er die App Discord, ein großes Onlineforum und einst Kommunikationskanal der Bewegung, inzwischen gelöscht: Sie war ihm zu destruktiv, erklärt Abhi im Gespräch mit der taz. „Manche sprachen von Bomben oder brennenden Gebäuden. Ich dachte, das seien Metaphern, keine Aufrufe“, so der 25-Jährige. Viele distanzierten sich rasch von Brandstiftungen und Vandalismus. „Aber das, was bei den Protesten begann, wird nicht einfach so wieder verschwinden“, ist sich der junge Mann sicher.
Samana Lawati, Mitgründerin des „Indigenous Gen-Z Collective“
Die Bewegung, die ohne zentrale Führung entstand, gewann schnell an Kraft. Vor dem Protest bastelte Abhi Pappschilder mit Slogans wie „Stoppt die Filterung unserer Demokratie“ und „Löscht die Korruption“. Abhi betont, dass sie politische Reformen wollen, keine Anarchie.
Nach 240 Jahren Monarchie und einem Jahrzehnt Bürgerkrieg wurde Nepal 2008 zur Republik – getragen von Maoisten, die sich gegen die Königsfamilie und das Kastensystem stellten, unterstützt von den Parteien NC (Nepali Congress) sowie der kommunistischen CPL-UML (United Marxists-Leninists). Seitdem gab es schon mehr als ein Dutzend Regierungen, meist mit alten Kriegshelden, gebildet aus NC, CPL-UML sowie der Kommunistischen Partei.
Jetzt steht Nepal an einem Wendepunkt. Eine Debatte über die politische Zukunft des Landes ist entbrannt. Für die kommenden Wahlen können sich neue Parteien bis zum 16. November registrieren lassen. Zwei existieren bereits, weitere, wie eine des populären 24-jährigen Influencers Miraj Dhungana, stehen im Raum – doch sie hat noch keinen Namen und ob sie Erfolg haben wird, ist ungewiss. Dhungana erklärte zudem, nur antreten zu wollen, wenn der Posten des Premierministers direkt gewählt würde, was die derzeitige Verfassung aber nicht vorsieht. Zwei neue Parteien wurden bisher gegründet, eine vom Lokalpolitiker Harka Sampang aus dem Osten Nepals und die Gatishil Loktantrik Partei, initiiert vom Soziologieprofessor Dinesh Prasai. Doch viele Wähler:innen hinter sich zu versammeln, dürfte schwierig für sie werden. Bei aller Verve blieben die Proteste, die an verschiedenen Orten im Land stattfanden, eher ein Nischenphänomen.
Die Jugend versucht, den Weg von der Straße in die Institutionen zu finden. Entweder durch direkte Kandidaturen oder durch die Gründung beratender Kollektive, die Einfluss ausüben wollen. „Viele denken ernsthaft darüber nach, in die Politik zu gehen, auch ich“, sagt Samana Lawati.
Sudan Gurung, DJ, Aktivist und Unternehmer, verhandelt bereits mit dem Präsidenten und Armeechef. Der 36-Jährige gehört zur tibetisch-ethnischen Minderheit und erlangte mit seiner NGO Hami Nepal während Krisen wie der Coronapandemie Ansehen. Er steht nun im Fokus der Aufmerksamkeit und hat öffentlich erklärt, dass er kandidieren will – aber nicht allein. Hami Nepal ist im Austausch mit der Übergangsregierung und pflegte in der Vergangenheit Beziehungen zu „Balen“, also Balen Shah, dem Bürgermeister von Kathmandu. Der gilt als einer der Favoriten für das Amt des nächsten Premiers. Der 35-jährige parteilose Shah ist außerdem Rapper und Ingenieur. Unter Jugendlichen ist er populär. Er fordert eine größere Eigenständigkeit Nepals, das sich gegen China und Indien behaupten muss, und setzt auf Reformen für die junge Generation. Doch ihm fehlen Parteistrukturen im Gegensatz zu Nepals drei politischen Mainstreamparteien – ein entscheidender Faktor.
Die Umwälzung und Unruhe macht sich auch wirtschaftlich bemerkbar. Es kommen weniger Tourist:innen, das Wirtschaftswachstum Nepals hat sich in den letzten Jahren verlangsamt und die Abwanderung hat zugenommen: Täglich verlassen rund 1.500 Nepales:innen ihre Heimat, meist Richtung Golfstaaten, nach Indien, Australien, Japan oder Russland. Rücküberweisungen sichern das Überleben vieler Familien. „Wenn es faire Löhne gäbe, würde ich bleiben“, sagt die 28-jährige Krankenschwester Madhu, die auf ein Visum für die USA wartet. Sie protestierte und riskierte damit einen Familienstreit, da ihre Mutter in einer der etablierten Parteien aktiv ist.
Der Wunsch nach Veränderung im eigenen Land – oder gleich auszuwandern – ist groß. Ein weiterer Grund dafür ist die hohe Jugendarbeitslosigkeit. Bei gut ausgebildeten Fachkräften wie Madhu sind es die zu geringen Verdienstmöglichkeiten. In Nepal protestierten sie regelmäßig wegen der niedrigen Löhne und der Arbeitsbelastung, sagt sie, doch es ändere sich wenig. Der damit verbundene Braindrain macht sich bemerkbar.
Madhu, 28, Krankenschwester
Auch der 23-jährige Osim Sekh aus der Provinz Madesh war im September auf der Straße. „Mein Leben ist einfach“, sagt er. „Ich arbeite auf den Feldern meiner Familie, lerne für Prüfungen. Aber während der Proteste änderte sich etwas.“ Er hat auch schon in den Golfstaaten gearbeitet, das habe ihn geprägt, sagt Sekh. Nun wolle er aber erst mal in seinem Land bleiben, denn er hofft, dass man in Kathmandu seine Minderheit der Madeshi nicht wieder vergisst.
Während viele zwischen Bleiben oder Gehen schwanken, läuft in Nepal die Aufarbeitung der Gewalt. Viele Fragen sind offen: Wer organisierte die Brandstiftungen? Die Lage ist schwer durchschaubar. Es besteht die Sorge, dass reaktionäre Kräfte versuchen könnten, die Interimsregierung herauszufordern. „Ich habe die Sorge, dass es erneut zu Unruhen kommt“, sagt Abhi. Wir wollen einen Neuanfang, nicht zurück zur Monarchie, betont er. Zwar gab es zuletzt Kundgebungen für die Rückkehr des 78-jährigen Ex-Königs Gyanendra Shah, doch sein Comeback scheint unwahrscheinlich.
Abhi trifft unterdessen Anwält:innen, Politiker:innen, Jugendgruppen. Er will die Wahlen absichern und schmiedet dafür Pläne. Sollte der Wahltermin nicht eingehalten werden können, ist er dafür, notfalls das alte Parlament wiedereinzusetzen. Dabei orientiert er sich an der Zeit nach der Monarchie, als die Maoisten eingebunden wurden, um den Frieden zu sichern. Der Erfolg wird nicht nur von der Interimsregierung, sondern auch von der Bürokratie abhängen.
Übergangspremierministerin Sushila Karki kündigte eine strafrechtliche Aufarbeitung an, lud nationale Parteien und wie den rechtsgerichteten Monarchiebefürworter Durga Prasai zum Dialog ein, nachdem der ehemalige maoistischer Guerillakämpfer mit Protesten gedroht hatte.
Der versöhnliche Geist, der Familien am Lichterfest zusammenbrachte, hallt noch nach. Doch die Spannung im Land zwischen Aufbruch, Unsicherheit und Hoffnung ist deutlich spürbar. „Wir wollen nicht nur dabei sein, wenn Macht verteilt wird. Wir wollen mitdenken, mitgestalten und Rechenschaft einfordern“, sagt Lawati.
Ob Nepals junge Generation die Politik und Institutionen nachhaltig verändern kann, wie viele von ihnen im Land bleiben, um es mit aufzubauen oder es aus dem Ausland mit Rücküberweisungen mitfinanzieren, ist noch ungewiss. Bis dahin lautet die Devise von vielen: optimistisch und wachsam bleiben.
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