Tunesien in der nächsten Coronawelle: Lockdown und Touristenstrände
Die Krankenhäuser sind voll mit Covid-Patienten, die Strände mit Touristen. Die Infektionszahlen in Tunesien steigen wieder rasant an.
D er dramatische Anstieg von Corona-Infektionen hat in Tunesien innerhalb weniger Wochen zu einer dramatischen Lage in Krankenhäusern geführt. Der „Verband junger Ärzte“ fordert wie viele Gesundheitsexperten einen mindestens sechswöchigen landesweiten Lockdown in dem 12-Millionen-Einwohner-Land, das von der neuen Pandemiewelle zur Zeit weltweit am stärksten betroffen ist.
Auch die politische und wirtschaftliche Lage ist angespannt. Daher reagierten viele Menschen mit Erleichterung auf den Kompromiss zwischen Regierungschef Hichem Mechichi und einer Expertenkommission, die am Dienstag ihre düstere Lageanalyse vorstellte. Einen pauschalen Lockdown könne man sich nicht leisten, so Mechichi und beließ es bei einer Vorverlegung der Ausgangssperre auf 20 Uhr und Schließung der Gastronomie am späten Nachmittag.
Für die nächsten zwei Wochen herrscht damit eine absurde Situation. In die gerade wiedereröffneten Hotels strömen ausländische Touristen und Exiltunesier, die ihre Sommerferien in der Heimat verbringen. Die Strände der Hauptstadtvororte Gammarth und Kram und die Strandclubs sind brechend voll. In der Provinzstädten wie Kairouan und Beja gibt es dagegen in den Notaufnahmen und Intensivstationen der Krankenhäuser keinen Platz mehr.
„Nur sofortige scharfe Maßnahmen können diesen Tsunami stoppen“, sagt ein Arzt aus der Kleinstadt Beja der taz. Er möchte anonym bleiben, denn seine Analyse könnte ihn den Job kosten. „Wir stehen vor dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems.“
7-Tage-Inzidenz von 566 in der Touristenmetropole
Doch Premier Mechichi hat wohl noch die Straßenproteste vom Februar im Kopf, als er am Dienstag abend vor die Kameras tritt und die pauschale Schließung des öffentlichen Lebens ablehnt. In mehr als einem Dutzend Städte waren kurz nach dem 10. Jahrestag der Revolution junge Arbeitslose, Tagelöhner und Schüler auf die Straße gegangen. Nachdem die Läden und Märkte wegen Überfüllung der Krankenhäuser für vier Tage geschlossen wurden, fehlte ihnen das Einkommen. Rund die Hälfte der jungen Tunesier arbeiten ohne Arbeitsvertag und soziale Absicherung. Bei Straßenschlachten nahm die Polizei über 2.000 Menschen fest.
Nun sollen die Provinzgouverneure Maßnahmen zur Eindämmung der vierten Covidwelle ergreifen, abhängig von der Lage in den Krankenhäusern und der Inzidenz. In der Touristenmetropole Sousse lag diese am Donnertag bei 566 pro 100.000 Einwohner, so hoch wie nie zuvor. Der Bürgermeister fackelte nicht lange und ordnete die Schließung aller nicht lebensnotwendigen Geschäfte ab dem 4. Juli an.
Auch in Kairouan, Tabarka und viele anderen Städten wird ein vierzehntägiger Lockdown die Schließung sämtlicher Restaurants und Läden und Strandbesuche bedeuten. Seit Freitag sind auch Reisen von und nach Tunis untersagt.
Über 2.000 Menschen sind alleine im Juni in Tunesien an Covid gestorben, jeder dritte Test fällt positiv aus, melden die Gesundheitsbehörden. Die Mehrheit allerdings spart sich die umgerechnet 42 Euro für den PCR-Test und bleibt bei Coronasymptomen einfach zuhause, sagt Taxifahrer Taieb Barhoumi, der selber im Oktober Coronasymptome hatte. Und weitergearbeitet hat. „Meine Töchter wollen studieren, meine Frau und ich versorgen unsere Eltern, der Ausfall meines spärlichen Lohnes hätte eine ganze Großfamilie ans Hungertuch gebracht.“
Diesmal sind auch Kinder und Jugendliche stark betroffen
Anderthalb Autostunden von Tunis entfernt herrscht Krieg. So zumindest beschreiben die Ärzte in der Kleinstadt Beja die Situation in dem Krankenhaus der für ihre grüne Hügellandschaft bekannte Provinzstadt.
Die Ärztin Omaima El Hassani berichtet von dem Mangel an Schutzkleidung für das Personal, den Mangel an Betten, und von Patienten, die über einen Tag auf Sauerstoffversorgung warten müssen. In von Angehörigen gefilmten Aufnahmen sind Patienten auf Betten und Matratzen auf dem Klinikparkplatz zu sehen. Für die vielen Patienten mit Atemnot fehlen die Sauerstoffgeräte.
Und anders als während der letzten Covidwelle sind nun auch Jugendliche und Kinder betroffen. Fünf Kinder starben am Wochenende im weiter südlich gelegenen Kairouan.
Der Ernst der Lage lässt sich schon am Straßenbild ablesen. Plötzlich tragen die meisten Passanten in Tunis Masken. Die Zeiten des Laissez-Faire sind vorbei, sagt ein Cafébesitzer und räumt die Stühle von der Terrasse. „Jetzt geht es um Geld oder Leben.“
Korrektur: In einer früheren Version dieses Textes war von Tunesien als einem „1-Million-Einwohner-Land“ die Rede. Das Land hat rund 12 Millionen Einwohner. Wir haben die entsprechende Stelle korrigiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz