Türkisches Radio schließt: Die Vielfalt verstummt
Der unabhängige Radiosender „Acik Radyo“ verliert seine Lizenz. Das ist ein erneuter Schlag gegen die Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei.
„Acik Radyo“, dem ältesten und bekanntesten freien Radio der Türkei, wird die Sendelizenz aberkannt. Der offene Kanal, an dem sich praktisch jede und jeder beteiligen konnte, wird wohl in Zukunft, wenn überhaupt, nur noch im Internet zu hören sein.
Offizieller Grund für den Entzug der Lizenz ist ein angeblicher Verstoß gegen ein mehrtägiges Sendeverbot, dass von RTÜK, dem staatlichen Aufsichtsorgan aller TV- und Radiosender verhängt worden war. Grund für das Verbot war eine Diskussionssendung am 24. April, dem Jahrestag des Völkermordes an den Armeniern. Ein Teilnehmer hatte unter anderem gesagt: „Wie Sie wissen, ist das Gedenken an den Völkermord auch in diesem Jahr in der Türkei verboten.“
RTÜK hatte eine Geldstrafe und ein mehrtägiges Sendeverbot verhängt, für die Macher von Acik Radyo eine fast schon routinemäßige Bestrafung. Das Sendeverbot war per E-Mail mitgeteilt worden. Deshalb blieb Acik Radyo zunächst auf Sendung, während sie gerichtlich gegen die Verfügung vorgingen. Obwohl der Sender dennoch einen ersten Abschlag der Geldstrafe zahlte, beharrte RTÜK darauf, Acik Radyo hätte gegen ihre Anweisungen verstoßen. Der Vorstand von RTÜK beschloss dann mit der Mehrheit der Regierungsvertreter, dem Sender die Lizenz zu entziehen.
Noch ist die Entscheidung nicht vollzogen, Acik Radyo ist im Moment noch zu hören, doch wenn ein Antrag gegen die Schließung bei Gericht keinen Erfolg hat, wird dem Sender „der Stecker gezogen“. Acik Radyo ist eines der ältesten und erfolgreichsten alternativen Medienprojekte der Türkei. Es wurde 1995 gegründet, wäre im nächsten Jahr seit 30 Jahren auf Sendung. Es hat mit Ömer Madra, einem der 92 Gründer des Radios, formal einen Chefredakteur, ist aber basisdemokratisch organisiert.
Offen für „alle Klänge, Farben und Schwingungen“
Das Programm wird von Freiwilligen präsentiert, nur ein kleiner Kern von Leuten, die Nachrichten präsentieren, sind hauptamtlich im Sender. Das Studio ist im Hinterhaus eines Ausstellungshauses im Zentrum von Istanbul. Finanziert wird Acik Radyo von Spenden, Hörer-Abos und ein wenig Werbung. Laut Ömer Madra ist es die Aufgabe von Acik Radyo, für „alle Klänge, Farben und Schwingungen des Universums“ offen zu sein.
Wer auf der Frequenz 95,0 einschaltete, konnte ungewöhnliche Musik hören, die von Menschen präsentiert wurde, die ihr Projekt vorher einer Versammlung bei Acik Radyo vorgestellt hatten. Vor einigen Jahren konnte selbst ein US-Korrespondenten-Kollege beim Sender als „Blues Brother“ auf Sendung gehen. Es gibt neben der Musik vor allem Diskussionssendungen, auch zu sogenannten Alltagsproblemen und Magazinsendungen, zuletzt über den Wiederaufbau in den Erdbebengebieten, das Verschwinden der Vögel durch Artensterben und ein Kunstprojekt „Home“ über avantgardistische Architektur.
Acik Radyo ist Plattform für eine urbane Großstadtkultur, die auch über abseitige Themen diskutierte. Da niemand bei Acik Radyo zensiert wurde, gab es in den knapp 30 Jahren der Existenz des Radios immer wieder Geldstrafen und Sendeverbote. Bislang hatte sich das Radio aber immer durch die Untiefen der türkischen Medienlandschaft hindurchnavigieren können, selbst nachdem die Pressefreiheit in den letzten zehn Jahren in der Türkei immer mehr eingeschränkt wurde.
2023 wurde Acik Radyo von mehr als 600 Freiwilligen präsentiert. Ihr Motto ist: „Verändere die Welt, und wenn es auch nur für eine Stunde ist“. Auf ihre Website hat das Radio einen Artikel eines anderen alternativen Nachrichtenportals T-24 gestellt, in dem der Vertreter der oppositionellen CHP im Vorstand von RTÜK, Ilhan Tasci, zitiert wird:
„Die Schließung eines 30 Jahre alten Rundfunkunternehmens ist sowohl ein erheblicher Eingriff in die Pressefreiheit als auch ein großer Verlust für die Hörer, die Sendungen verfolgen, die unterschiedliche Stimmen zum Ausdruck bringen“. Das waren zuletzt rund 70.000 Menschen im Großraum Istanbul.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen