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Türkische Justiz im AusnahmezustandUnter Generalverdacht

Das Justizsystem wird umgebaut, rund 300 Anwälte sind inhaftiert. Ayşe Acinikli kam vorläufig frei. Ihre Arbeit setzt die Anwältin fort.

Am 18. April 2009 fand in Ankara eine Großdemo für eine sekulare Türkei statt Foto: dpa

ANKARA taz | Zwei Uhr nachts, Kampfjets donnern über die Dächer von Istanbul. Im Gefängnis nahe dem Flughafen vibrieren die Fensterscheiben, die Türen der Zellen scheppern. An die 20 Frauen stürmen ins Gemeinschaftszimmer und drängeln sich um einen Fernseher. Plötzlich knallt es dumpf, die Erde bebt. Das Bild ist weg, es ist stockfinster.

Ayşe Acinikli, 30 Jahre alt, legt den Zeigefinger an ihre Lippen. „Wir dürfen jetzt nicht in Panik ausbrechen“, flüstert sie den Frauen zu. „Die Gefängniswärter können jetzt mit uns machen, was sie wollen, wir sind ihnen ausgeliefert. Also bedeckt euren Körper bis über die Schuhe und bleibt ruhig.“ Die Frauen kehren zurück in ihre Zellen, zwölf Quadratmeter, zwei Betten. Sie setzen sich auf die Kante. In dieser Haltung warten sie auf den Morgen, während draußen Soldaten versuchen, den Staatspräsidenten Erdoğan zu stürzen.

Die Anwältin Ayşe Acinikli hat den Putschversuch in der Türkei am 15. Juli 2016 im Gefängnis erlebt. Sie ist alevitische Kurdin, ihre Stimme ist tief und kräftig. „Als ich erfahren habe, dass das Parlament nun den Ausnahmezustand für die gesamte Türkei ausruft, da wusste ich: Die Regierung wird sich diese Situation zunutze machen.“

Die deutsche Delegation

Gerade eben in einem Sitzungssaal der deutschen Botschaft in Ankara wirkte Acinikli noch aufgeräumt und beherrscht. Dort hat sie dem Präsidenten des Deutschen Anwaltvereins (DAV), Ulrich Schellenberg, von den Repressionen berichtet, die sie als türkische Anwältin erfährt. Eine Stunde hat ihr die DAV-Delegation zugehört, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Weitere Treffen mit anderen Anwälten, Angehörigen, Parlamentariern haben stattgefunden. Nach seiner Reise wird Schellenberg resümieren: „Richter haben Angst, Staatsanwälte haben Angst, Anwälte haben Angst. Und wenn Sie in der Justiz Angst haben, dann können Sie nicht unabhängig nach gesetzlichen Vorgaben entscheiden. Dann entscheiden Sie nach Angst.“

Ayşe Acinikli trägt an diesem Morgen Brille, Tweedrock und ein graues Shirt, ihre hüftlangen Haare sind rot gefärbt. Im persönlichen Gespräch in der Kantine der Botschaft schnellt immer wieder temperamentvoll ihr Arm in die Höhe. Die Schaumkrone ihres Cappuccinos ist zusammengefallen, das belegte Brötchen auf dem Teller hat sie nicht angerührt. Ausharren – Acinikli ist darin geübt.

Acinikli verteidigt oft junge Menschen, die verdächtigt werden, der kurdischen Untergrundorganisation PKK anzugehören

Die Juristin, Jahrgang 1986, wächst in Kahramanmaras auf, einer 1-Million-Einwohner-Stadt unweit der syrischen Grenze. 1978 wüteten dort türkische Soldaten, zerrten Menschen, die der christlich-alevitischen Glaubensgemeinde angehörten, aus ihren Häusern, richteten die Männer hin und vergewaltigten die Frauen. „Zwei meiner Onkel wurden getötet und meine beiden Großväter“, erzählt Acinikli. Jahrelang befanden sich die Provinzen im Südosten der Türkei im Ausnahmezustand.

Doch Acinikli lässt sich nicht einschüchtern. In der Schule ist sie fleißig, sie will studieren, Jura, in Istanbul. „Bei den alevitischen Kurden hat jeder einen Anwalt in der Familie“, sagt sie. Nach dem Studium gründet Acinikli den Verein der freiheitlichen Anwälte ÖHD in Istanbul mit, spezialisiert sich auf Menschenrechtsverletzungen. Acinikli verteidigt oft junge Menschen, die verdächtigt werden, der kurdischen Untergrundorganisation PKK anzugehören. Als einer ihrer Mandanten, ein Student, in Untersuchungshaft die Hälfte seines Gewichts verliert, besorgt sie ihm Medizin. Sie telefoniert oft mit Mitgliedern eines Vereins, der die Angehörigen von Inhaftierten betreut.

Im März 2016, morgens um fünf, stürmen plötzlich Polizisten ihre Wohnung. Sie nehmen ihren Computer mit – wie auch die junge Anwältin. „Sie meinten, dass sie mich verhaften, weil ich für diesen Verein gearbeitet hätte.“ Acinikli rutscht auf dem Metallstuhl nach vorne, es knarzt. „Weil ich Mandanten im Gefängnis besucht und mit ihnen telefoniert habe. Ich wurde gefragt, warum ich Kontakte zu PKK-Mitgliedern hätte.“ Acinikli lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. „Und ich habe gesagt: weil das mein Job ist.“

In Untersuchungshaft

Nach fünf Tagen wird Acinikli freigelassen. Kurz darauf kommt sie in Untersuchungshaft. Sie wird verdächtigt, der kurdischen Untergrundorganisation PKK anzugehören. Fünf Monate lang bleibt sie im Gefängnis. Nach dem Putsch darf ihr Freund sie nur noch einmal im Monat besuchen. Nach der zweiten Verhandlung im September wird Acinikli mangels Beweisen vorübergehend entlassen – doch die Behörden ermitteln weiter.

Das Verfahren gegen sie hatte noch vor Ausrufung des Ausnahmezustands begonnen. „Wer Kurden vertritt, musste immer damit rechnen, eingesperrt zu werden“, sagt Acinikli. „Aber die Türkei, aus der ich weggesperrt wurde, und die Türkei, in die man mich entlassen hat, sind zwei verschiedene Länder. Die Menschen haben Angst.“

„Es gibt kein Anwaltsgeheimnis mehr“, sagt Ayse Acinikli im Januar 2017 in Ankara Foto: dpa

Die Behörden haben den Anwaltsverein ÖHD verboten. Kanzleien und Wohnungen vieler Kollegen seien durchsucht worden, berichtet Acinikli. Bis vor Kurzem musste das noch ein Staatsanwalt anordnen, er sollte die Durchsuchung überwachen. Anwälte konnten einen Vertreter der Anwaltskammer einschalten. „Jetzt kann die Polizei auf eigene Faust Hausdurchsuchungen anordnen, Computer und Unterlagen konfiszieren und die Anwälte festnehmen“, sagt Acinikli. Das betreffe vor allem Strafverteidiger in politischen Verfahren. Aber auch Anwälte von Menschen, denen Enteignung droht, stünden unter Generalverdacht. Rund 300 Juristen sitzen derzeit in Haft.

Acinikli beißt in ihr Brötchen, legt es zurück und fährt fort: „Vor einem Monat bin ich zur Polizeistation gegangen, um einen Mandanten zu treffen, der verdächtigt wird, Mitglied der PKK zu sein. Aber die Polizei hat mich einfach weggeschickt.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Ich stehe selbst unter Verdacht, der PKK anzugehören, hat man mir gesagt. Deshalb dürfe ich meinen Mandanten nicht vertreten.“

Notstandsdekrete bereiten Sorgen

Die Kantine der deutschen Botschaft befindet sich in einer von mehreren Villen in einem Park, mitten in Ankara. Ein Zaun trennt das Gelände von einer zweispurigen Hauptstraße. Mustafa Kemal Atatürk hat es in den 1920er Jahren der deutschen Regierung geschenkt, als sich hier noch Hügel ausdehnten. Atatürk hat das Sultanat und das Kalifat in der Türkei abgeschafft und eine Republik nach europäischem Vorbild gegründet. Er hat das Zivilgesetzbuch aus der Schweiz kopiert, die Strafprozessordnung aus Deutschland übernommen. Und jetzt ist der türkische Staatspräsident Erdoğan dabei, die Errungenschaften des Reformers Stück für Stück abzubauen.

Am meisten Sorge bereiten Acinikli die Notstandsdekrete. „Erdogan erlässt Gesetze, die das Justizsystem lähmen. Und das Parlament kann nichts dagegen tun.“ Bis vor Kurzem durfte die Polizei Menschen einen Monat lang in Gewahrsam festhalten – in den ersten fünf Tagen ohne Zugang zu einem Anwalt. Acinikli befand sich selbst fünf Tage in Gewahrsam, sie weiß, wie es einem dort ergeht: „Die Polizeistationen sind überfüllt, es gibt keine Duschen, keine frische Luft. Keinen Platz zum Schlafen, keine Stühle. Die Polizisten kommen nachts, um Fingerabdrücke zu nehmen“, erzählt sie und ruft: „Das ist Folter.“

Acinikli darf ihre Mandanten nun nur noch eine Stunde pro Woche im Gefängnis besuchen. Zettel und Stift werden ihr abgenommen, und die Behörden haben das Recht, das Gespräch aufzuzeichnen. „Es gibt kein Anwaltsgeheimnis mehr“, sagt sie. „Die Dekrete verletzen unsere Verfassung.“

50.000 Klagen beim Verfassungsgericht

Rund 50.000 Klagen gegen die Notstandsdekrete sind in den letzten Monaten am Verfassungsgericht eingegangen. Doch sie hängen dort fest: Das Gericht hat sich für unzuständig erklärt. Solange die Klagen auf nationaler Ebene nicht abgelehnt werden, können die Kläger aber nicht weiterziehen vor den Europäischen Gerichtshof. Vieles, das im Moment in der Türkei passiert, erinnert an Deutschland in den 1930er Jahren. Der Staatspräsident hat ein Drittel aller Richter und Staatsanwälte suspendiert. Die frei gewordenen Stellen hat er im Schnellverfahren mit Hochschulabgängern besetzt. Statt eines Referendariats absolvieren sie einen 14-tägigen Crashkurs.

Ayşe Acinikli blickt zur Seite und grinst. „Wenn ich jetzt mit einem Mandanten ins Gericht gehe und den Richter sehe, dann denke ich nur . . . oh honey!, du hast gerade die Schule beendet und bist schon Richter!“ Ihre Kollegen sagen, das Zeitalter der Kinder-Richter und Kinder-Staatsanwälte habe begonnen. Acinikli lacht und fasst sich schnell. „Die Richter, die der Gülen-Bewegung angehörten, haben zwar harte Urteile gefällt“, sagt sie. „Aber man konnte sie kritisieren, man konnte mit ihnen diskutieren. Wenn ich jetzt mit einem der neuen Richter spreche, habe ich den Eindruck, der versteht mich nicht einmal.“

Acinikli macht einen robusten Eindruck. Doch wenn man sie auf das Referendum über die Verfassungsänderung im April anspricht, rutscht sie nervös auf dem Stuhl hin und her. Damit will der Staatspräsident alle Macht in seiner Person konzentrieren und die Justiz kon­trollieren – auch auf dem Papier. „Ich denke, die Menschen werden für die Änderung stimmen“, sagt sie und lacht angestrengt. „Ich bin schon auf der Suche nach einem Gefängnis für mich selbst.“ Sie streckt ihr Kreuz durch und sagt: „Ich will nicht darüber nachdenken. Wir werden weiterkämpfen.“ Dann verabschiedet sie sich. Sie hat drei neue Fälle übernommen.

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