Inhaftierte Journalisten: 20 Quadratmeter Beton
Vor 100 Tagen wurden zehn Mitarbeiter der “Cumhuriyet“ verhaftet. Im Gefängnis Istanbul-Silivri werden ihre Rechte aufs Schwerste verletzt.
Unsere zehn Cumhuriyet-Kollegen, die sich seit 100 Tagen in Untersuchungshaft befinden, wurden noch nicht verurteilt – bestraft werden sie aber bereits. Mit einer Reihe von Rechtsverletzungen wird nicht nur ihre Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt, auch ihr Recht auf Kommunikation mit der Außenwelt wird aufs Schwerste verletzt.
Ihnen wird untersagt, Briefe zu verschicken. Als Begründung für diese Einschränkungen werden die im Rahmen des Ausnahmezustands geltenden Notstandsdekrete angeführt. Dabei gibt es in diesen Dekreten keine offizielle Regulierungen, die diese Haftbedingungen rechtfertigen.
Stellen Sie sich vor, Sie dürfen nur zwei Stunden pro Woche Ihre Anwälte und Angehörigen sehen. Ziehen Sie eine Glaswand zwischen sich und ihnen hoch und denken Sie sich ein Telefon dazu. Eine Begegnung, bei der nach einer Stunde der Ton abgeschaltet wird und nur das Bild übrigbleibt.
Alle zwei Monate eine Umarmung
geboren 1987. Journalistin bei der Cumhuriyet, seit 2013 Gerichtsberichterstatterin. Coşkun schreibt über die Korruptionsermittlungen sowie die Ermittlungen gegen die Gülen-Bewegung und beschäftigt sich mit der Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei. Wegen ihrer Artikel laufen zahlreiche Gerichtsverfahren gegen Coşkun.
Alle 15 Tage dürfen Sie mit ihrer Familie telefonieren, allerdings wird die Gesprächszeit auf zehn Minuten beschränkt. Alle zwei Monate dürfen Sie Ihre Geliebten umarmen. Währenddessen werden Sie von einer Kamera aufgezeichnet, inklusive Tonaufnahme. Willkommen in Silivri!
Sinem Kara, die Ehefrau des Cumhuriyet-Autoren Hakan Kara, hat es nicht übers Herz gebracht, ihrer fünf Jahre alten Tochter zu erklären, dass ihr Vater im Gefängnis sitzt. Bis zum 100. Tag seiner Inhaftierung hat sie ihren Ehemann nur einmal ohne die trennende Glaswand sehen dürfen. Auch wenn sie sich längst daran gewöhnt hat, dass ihre wöchentlichen Gespräche hinter der Glaswand aufgezeichnet werden, sagt sie doch: “Es ist nicht gut, sich daran zu gewöhnen.“
Ihre kleine Tochter denkt derweil, dass ihr Vater auf Geschäftsreise im Ausland ist. “Sie kann alle fünfzehn Tage mit ihrem Vater telefonieren“, erzählt Sinem Kara. “An Tagen, an denen diese Gespräche stattfinden, geht sie nicht zur Schule. Damit sie ihren Vater nicht vergisst, lasse ich ihr Geschenke zukommen, als habe sie ihr Vater geschickt. Er sitzt weiterhin in Untersuchungshaft, weil es immer noch keine Anklageschrift gibt. Langsam findet die Kleine: ‚Es reicht jetzt. Er soll endlich zurückkommen.‘“
Ein Buch für drei Insassen
Nun stellen Sie sich Ihre Lieblingsfarbe vor. Zum Beispiel hellblau. In Silivri ist diese Farbe nicht erlaubt. Die Justizvollzugsbeamten geben die Farbpalette vor. Das Leben hier ist weiß, dunkelblau, algengrün und metallgrau. Das Grün im Pflanzentopf ist auch verboten. Überall ist Beton. Und überall bedeutet 20 Quadratmeter.
Bücher können zwischen diesen vier grauen Wänden ohne Frage die große Rettung sein. Doch als unsere Kollegen im November verhaftet wurden, gab es in Silivri so wenige Bücher, dass sich schon damals drei Insassen ein Buch teilen mussten. Die Haftanstalt, die den traurigen Ruf des “größten Gefängnisses von Europa“ genießt, war im Besitz von 1.750 Büchern.
Nach der großen Verhaftungswelle, die auf den gescheiterten Putschversuch im letzten Sommer folgte, ist Silivri so überfüllt wie nie zuvor. Da auch der Cumhuriyet-Literaturredakteur Turhan Günay unter den Verhafteten war, entschied der Verlag İletişim Yayınları, der Haftanstalt Bücher zu spenden. Erst nach einer langen Prüfung durch die Beamten erhielten die Insassen kürzlich Zugang zu diesen Büchern.
Beschluss des Verfassungsgerichts
Vor genau einem Jahr hatte das Verfassungsgericht einen Beschluss unterzeichnet, der die Rechtsverletzungen während der Haft von Can Dündar und Erdem Gül bestätigte. Darin stand, dass Journalist*innen nicht allein aufgrund ihrer Berichterstattung inhaftiert werden könnten, und dass Dündars und Güls Persönlichkeitsrechte sowie ihr Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzt wurden. Auch heute werden die in diesem Beschluss aufgezählten Prinzipien außer Acht gelassen.
61 Tage nachdem unsere zehn Kollegen festgenommen wurden, landete auch der Cumhuriyet-Korrespondent Ahmet Şık hinter Gittern. Ihm wird vorgeworfen, über Twitter Propaganda für die Terrororganisationen FETÖ/PDY (die sogenannte „Gülen-Terrororganisation“/“parallele Staatsstruktur“, Anm.d.Red.) und die PKK gemacht zu haben. Auch wenn Justizminister Bekir Bozdağ behauptet, derzeit seien „nur“ 30 Journalist*innen in Haft, handelt es sich tatsächlich um 151 Kolleg*innen, die ihrer Freiheit beraubt wurden. Solange sie inhaftiert sind, fühlen auch wir uns nicht frei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben