Türkische Friedensaktivistin Pinar Selek: "Ich fühle mich nirgends sicher"
Pinar Selek schreibt über Militär, Sexualität und die Kurdenpolitik. Ihr Fall ist mittlerweile zum Politikum geworden. Jetzt droht Selek mal wieder das Gefängnis. Ein Porträt.
An einem Tag im Jahre 1998 wendete sich für Pinar Selek das Leben unwiderruflich. Die Soziologin, Schriftstellerin, Friedensaktivistin und Feministin rutschte in ein nicht endendes Dilemma. Wer einmal in das Räderwerk der türkischen Justiz gerät, kommt schwer wieder heraus. An dem Tag, dem 9. Juli, kam es im Misir Carsi, einem Basar in Istanbul, zu einer Explosion.
Der Markt glich einem Schlachtfeld: Zusammengestürzte Wände, zerborstene Regale, überall Scherben und Blut. Sieben Menschen wurden getötet und über 120 verletzt. Selek wurde verhaftet und bezichtigt, den Anschlag im Namen der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) durchgeführt zu haben. Seitdem wird sie von der Justiz verfolgt.
Heute, elf Jahre später, lebt sie in Köln im Exil, hat ein Stipendium der Heinrich-Böll Stiftung und schreibt an ihrem ersten Roman, "über die Liebe und die Suche", sagt sie auf Türkisch. Danach geht sie nach Berlin mit einem Stipendium des PEN International. In die Türkei kann sie nicht zurück, dort droht ihr die sofortige Verhaftung. Fühlt sie sich sicher in Deutschland? "Natürlich sicherer als in der Türkei, aber insgesamt fühle ich mich nirgends sicher." Warum? "Weil ich eine Frau bin, weil ich ein radikaler Mensch bin."
Die 38-Jährige ist eine kleine Frau mit braunen Locken, zusammengehalten durch eine Spange mit lila Blumen, um ihren Arm trägt sie ein Muschelarmband, und weil sie gerne lacht, wirkt sie auf den ersten Blick wie eine Frau, die fröhlich dahinlebt. Tatsächlich täuscht dieser erste Eindruck. Schon zu Beginn des Gesprächs schaltet sie auf Kampf, ihr Ton wird rau. Wo war sie während der Explosion 1998? "Ich werde diese Frage nicht beantworten.
Die Frau: Pinar Selek, geboren 1971 in Istanbul und dort aufgewachsen, ist die Tochter des bekannten linken Rechtsanwalts Alp Selek. Sie besuchte dort das Französische Gymnasium, studierte Soziologie in Ankara und Paris.
Die Arbeit: Pinar Selek veröffentlichte eine Studie über die Gewalt an Transsexuellen und Transvestiten in Istanbul. Sie übersetzte ein Buch des Zapatisten Marcos ins Türkische. Sie ist Mitbegründerin der Frauenkooperative Amargi und organisierte nach ihrer Haftentlassung Frauentreffen für einen Dialog und Austausch in kurdischen Städten. Des Weiteren engagierte sie sich für staatliche Gewaltopfer. Sie schreibt außerdem für türkische und kurdische Zeitungen.
Die Bücher: Pinar Selek hat bisher vier Bücher veröffentlicht. Im Jahr 2004 erschien "Barismadik" (übersetzt: Wir haben keinen Frieden geschlossen), in dem sie die Friedensbewegung und den Militarismus in der Türkei analysiert. Ihr letztes Buch "Sürüne sürüne erkek olmak" ("Kriechend zum Mann werden") wird derzeit ins Deutsche übersetzt und soll im Januar im Orlanda Verlag erscheinen. Darin beschreibt sie das türkische Militär als eine Art Zwangsinitiationsstation zur Konstruktion männlicher Identität, die es unter allen Umständen zu beweisen, zu zeigen und zu verteidigen gilt.
Man darf sie mir nicht stellen, ich akzeptiere es nicht", entgegnet sie und schiebt hinterher: "Selbst vor Gericht habe ich diese Frage nicht beantwortet. Ich habe zu dieser Zeit in der Kurdenfrage recherchiert. Auch unter Folter habe ich die Menschen, die mir vertrauen, nicht verraten." Den Rest des Gesprächs sitzt sie da wie eine spannungsgeladene Sprungfeder. Man rechnet nun in jeder Sekunde damit, dass sie entgegnet: "Mir gefallen die Fragen nicht", das Interview für beendet erklärt, dass sie aufsteht und geht. Aber dann bleibt sie doch.
Wie geht es einer Frau, deren Werkzeug das Wort ist, die nach Deutschland kommt und plötzlich nichts mehr versteht? "Ich vermisse die Türkei sehr, dort sind die Menschen, die ich liebe, meine Arbeit", sagt Selek. Wie ein schweres, melancholisches Parfüm hängt die Erinnerung an Istanbul in der Luft. Eigentlich müsste sie ihr Land verfluchen, aber dann wäre sie heimatlos. Das will sie nicht, im Gegenteil: Sie erzählt von den Menschen, die sie unterstützten. Personen, die sonst nie zueinandergefunden hätten - Homosexuellen, Islamisten, Kemalisten.
Vor der Explosion arbeitete Selek in Istanbul mit Straßenkindern zusammen und schrieb erfolgreiche Bücher über die Gewalt gegen Transvestiten, Feminismus, Militarismus und Politik. Sie hat gesellschaftlich brisante Studien durchgeführt, darunter eine zum Vorgehen der Streitkräfte Ankaras im Siedlungsgebiet der türkischen Kurden. Sie ist natürlich vorgewarnt.
Denn die Türkei ist ein Land, in dem offene Worte Gefängnis bedeuten können, und immerhin kommt sie aus einer politisch engagierten Familie. Der Großvater war Abgeordneter einer linken Partei, ihr Vater, ein bekannter Anwalt, saß wegen seiner Regimekritik fünf Jahre im Gefängnis. "Ich bin aufgewachsen vor den Türen eines Gefängnisses. Für mich war das normal." Dennoch war sie von den Ereignissen nach der Explosion völlig überrascht.
Ob sie naiv gewesen sei? Sie habe die Kraft ihrer Arbeit unterschätzt. "Ich habe wegen meiner Texte damit gerechnet, vielleicht mal festgenommen zu werden", sagte sie. Das schreckte die junge Frau nicht. "Aber als Terroristin abgestempelt zu werden? Nein, das konnte ich nicht vorhersehen." Man denkt ja stets, ein schlimmes Schicksal träfe ausschließlich die anderen. Selek bildete da keine Ausnahme.
Am Tag der Explosion wurde Seleks Weltordnung unrettbar erschüttert. Bei ihrer Festnahme und während der unter Folter stattfindenden Verhöre seien ihr keine Fragen im Zusammenhang mit der Explosion gestellt worden. Erst nachdem sie einen Monat in Untersuchungshaft saß, erfuhr sie aus dem Fernsehen, was ihr vorgeworfen wurde. Sie soll als Sympathisantin der PKK einen Sprengsatz am Eingang des Gewürzmarkts gelegt haben.
Selek hatte die Vorwürfe stets bestritten und betonte, sie habe sich als Soziologin mit der PKK beschäftigt, sei aber nie Mitglied gewesen. Der Prozess war von Beginn an geprägt von Ungereimtheiten. Ein angeblicher Komplize zog während des Verfahrens seine Aussage zurück, da diese unter Folter von ihm erpresst worden sei. Das Gericht ließ immer wieder neue Sachverständigengutachten anfertigen, die aber stets dasselbe Ergebnis lieferten: Ursache der Explosion in dem Basar sei eine geplatzte Gasflasche gewesen, keine Bombe. Es gab keine Zeugen, keine Komplizen, keine Beweise: Es gab nur diesen Verdacht, und der reichte aus, um Selek für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis zu stecken - in eine Zelle mit 70 anderen Frauen. Während dieser Zeit wurde sie auch gefoltert.
"Wer der Folter erlag, der wird nicht mehr heimisch in der Welt", sagte einst der österreichische Schriftsteller Jean Améry. Ob das stimmt? Selek zögert. "Ja, aber man kann sich dagegen wehren und gesund werden", antwortet sie. "Mir ging es besser als den anderen Insassinnen, weil meine Familie, meine Anwälte, meine Freunde hinter mir standen", sagt sie auf die Frage, wie man das Gefängnis aushält.
Erst nach dem siebten Gutachten, das auch zu dem Ergebnis kommt, die Explosion sei durch eine defekte Gasflasche verursacht, sieht ein Revisionsgericht ihre Unschuld als erwiesen an. Im Dezember 2000 wird sie aus der Haft entlassen. Aber seitdem sie das Gericht 1998 verurteilte, wird sie das Stigma nicht mehr los, mit Terroristen zu sympathisieren. Es hat sich an ihren Namen geheftet und gibt ihn nun nicht mehr frei. Und weil sie sich nicht ruhig verhält, so wie ihre Gegner es wollen, weil sie weiter kritisiert, wird versucht, ihr immer wieder das eine Vergehen zu unterstellen.
Als sie im Jahr 2004 den antimilitärischen Widerstand in der Türkei untersucht, wird prompt wieder dieselbe Anklage hervorgeholt. Im Juni 2006 wurde sie das erste Mal freigesprochen, diesmal weil "die Ursache der Explosion nicht mit Gewissheit festgestellt werden konnte".
Im Jahr 2007 erklärte ein Gerichtshof den Freispruch für ungültig und nahm die Anklage wieder auf, ein Jahr später folgte der zweite Freispruch. Jetzt wurde die Anklage gegen Selek wieder aufgenommen. Der Oberste Gerichtshof fordert "lebenslänglich", im September wird über die erneute Klagezulassung entschieden. Selek wird vorerst in Köln bleiben und will sich die Entwicklung aus sicherer Entfernung anschauen.
Ob ihr Widerstand all die Opfer wert waren? Sie schaut irritiert. "Man muss doch für das kämpfen, woran man glaubt."
Inzwischen ist der Fall zum Politikum geworden, es gab Kampagnen von Politikern und Intellektuellen aus aller Welt. Zu ihren Unterstützern gehören die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth, der amerikanische Linguist Noam Chomsky, der türkische Schriftsteller Yasar Kemal und Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk. Sieht sie sich als Opfer einer Treibjagd oder Opfer ihres eigenen Antriebs?
Die Ursache für ihre juristische Verfolgung vermutet Selek in ihrer Arbeit. Sie beschäftigt sich mit unangenehmen Themen: dem Militär, der Sexualität, der Gewalt und der Kurdenpolitik. Bereichen, die allesamt vermint sind. "Es soll ein Signal an andere Intellektuelle sein. Wenn sie politisch aktiv werden, dann werden sie so enden wie ich." Noch ist Seleks Willen stärker als die Furcht. "Ich habe Angst vor dem Urteil", räumt sie ein. Manchmal fühle sie sich wie die Hauptdarstellerin in einem Thriller. "Wer sagt mir, dass ich nicht morgen als Drogendealerin abgestempelt werde?"
Liebhaberin eines Terroristen wurde sie schon genannt. Im Jahr 2007 schrieb die Tageszeitung Hürriyet, der PKK-Anführer Abdullah Öcalan habe ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie sei des Öfteren zu ihm auf die Gefängnisinsel gefahren, es gebe eine Romanze. Am nächsten Tag setzten ihre Anwälte zwar eine Gegendarstellung durch, dennoch habe ihr diese Schlagzeile gezeigt, wie sie in der Schusslinie der Konservativen steht.
Mit ihrer Arbeit will sie dennoch niemals aufhören. "Ich erlaube es nicht, dass man mich handlungsunfähig macht. Das wäre so, als wenn man mich bitten würde, mit dem Leben aufzuhören", sagt sie, und es klingt wie ein Durchhaltebefehl.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel