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TürkeiDie türkische Linke wird unabhängig

Bei den vorgezogenen Wahlen treten die kleinen Parteien mit unabhängigen Kandidaten an. So wollen sie die Zehnprozenthürde umgehen.

Im Mai protestierten Tausenden im türkischen Samsun gegen die AKP-Regierung. Der Vorwurf: Sie würde die säkulare System aushöhlen. Bild: dpa

ISTANBUL taz Baskin Oran ist zuversichtlich. In Interviews hat er vorgerechnet, dass es eigentlich möglich sein müsste, in dem Istanbuler Wahlbezirk, in dem er antritt, 70.000 Stimmen zu bekommen. Immerhin wohnt dort ein großer Teil des kritischen Potenzials des Landes. Das müsste reichen, damit er als Unabhängiger bei den Wahlen am 22. Juli ins türkische Parlament einziehen kann.

Der streitbare Professor, der vor zwei Jahren mit einem Report über die Minderheiten in der Türkei Furore machte, ist nicht der einzige bekannte Linke, der bei den Wahlen sein Glück als Unabhängiger versucht. Auch Ufuk Uras, Vorsitzender der kleinen links-grünen ÖDP, kandidiert dieses Mal nicht auf der Liste seiner Partei, sondern ebenfalls als Unabhängiger auf der asiatischen Seite Istanbuls.

Die ÖDP hat, wie andere kleinere Parteien auch, für die Parlamentswahlen die Konsequenzen aus der 10-Prozent-Hürde gezogen und tritt als Partei erst gar nicht mehr an. Stattdessen versucht sie, einzelne Kandidaten in aussichtsreichen Bezirken als Unabhängige zu platzieren.

Dasselbe macht die kurdische DTP. Die Partei, die unter immer neuen Namen, aber mit dem gleichen Programm als kurdische Regionalpartei im Südosten des Landes seit 15 Jahren antritt und in einigen Wahlbezirken über 50 Prozent bekommt, hat landesweit die 10 Prozent immer verfehlt und lässt deshalb ihre Leute in diesem Jahr auch als Unabhängige antreten. Selbst nach vorsichtigen Schätzungen kann sie so bis zu 25 Mandate erringen und dann eine Fraktion bilden.

Es kann also sein, dass im neuen Parlament außer der islamisch grundierten jetzigen Regierungspartei AKP, der linksnationalistischen jetzigen Opposition CHP und der ultrarechten MHP, die ebenfalls gute Chancen hat, die 10-Prozent-Hürde zu überspringen, noch einige Überraschungsabgeordnete sitzen werden, die als Unabhängige neue Töne in die türkische Politik bringen werden. Das ist zwar erfreulich und gibt denjenigen Wählern, die sowohl an der islamischen AKP wie auch an der linkschauvinistischen CHP verzweifeln, die Möglichkeit, endlich mal guten Gewissens einen Kandidaten wählen zu können, doch machtpolitisch werden sie wohl kaum eine Rolle spielen.

Auch wenn Premier Tayyip Erdogan schon einmal angedeutet hat, dass, bei einer eindeutigen Distanzierung vom "Terror der PKK", für ihn eine Zusammenarbeit mit den kurdischen Abgeordneten denkbar ist, wird sich die Machtfrage wohl zwischen der AKP auf der einen und CHP und MHP auf der anderen Seite entscheiden. Rechte und linke Nationalisten können sich eine Zusammenarbeit gut vorstellen, und jeder neue Anschlag, jedes weitere Attentat der PKK lässt ihre Chancen auf eine Mehrheit bei den Wahlen steigen.

Sollten CHP und MHP nach den Wahlen eine Regierung bilden, wird wohl ein Einmarsch im Nordirak folgen, den der Generalstab fordert und Erdogan bisher verhindert. Deshalb machen MHP und CHP auch mit dem Argument Wahlkampf, die Regierung würde die Sicherheitskräfte an einer effektiven Terrorbekämpfung hindern.

Offen ist dagegen die Frage, wie das Militär und die Bürokratie reagieren werden, sollte die AKP bei den Wahlen erneut eine absolute Mehrheit erringen. Die Wahl des Präsidenten, Auslöser der Krise, die zu Neuwahlen geführt hat, ist immer noch durch ein Veto des amtierenden Präsidenten blockiert und kann nicht, wie Erdogan ursprünglich wollte, parallel zu den Parlamentswahlen abgehalten werden. Die vom alten Parlament noch beschlossene Verfassungsänderung, nach der der Präsident zukünftig direkt vom Volk gewählt werden soll, ist von der Opposition und dem amtierenden Präsidenten beim Verfassungsgericht angefochten worden. Es ist deshalb wenig wahrscheinlich, dass die Parlamentswahl die institutionelle Krise der türkischen Demokratie lösen wird. Trotzdem konzentriert sich jetzt erst einmal alles auf diese Parlamentswahlen, in der Hoffnung, die Karten neu zu verteilen, sodass eine Lösung eher möglich wird.

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