■ Türkei: Yilmaz vergleicht Bundesrepublik mit Hitler-Deutschland: Mit der Brechstange in die EU
Die Bonner Osteuropapolitik erinnert an die Lebensraumstrategie der Nationalsozialisten. Das sitzt, das trifft und bleibt nicht folgenlos. Kaum anzunehmen, daß der jüngste Ausfall des türkischen Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz gegenüber der Bundesregierung der unberechenbaren Laune eines zurückgewiesenen Liebhabers entspringt. Eines Brautwerbers, dem im Dezember in Luxemburg von der EU endgültig beschieden wurde, daß für die Türkei an der Festtafel des erweiterten Europas auf absehbare Zeit allenfalls ein Katzentisch bereitsteht. Es ist ein letzter verzweifelter Versuch, den Türspalt nach Europa mit der Brechstange aufzustoßen.
Mesut Yilmaz, der nicht nur fließend Deutsch spricht, sondern für einige Jahre an der Kölner Universität Wirtschafts- und Sozialwissenschaften studierte, kennt Deutschland gut – gut genug, um zu wissen, daß er einen gezielten Schlag unter die Gürtellinie plaziert hat. Die eine Botschaft dieser Kampfansage lautet: Wer weiterhin auf eine Politik des Lebensraums setzt, der soll künftig mit seiner Kritik an der Menschenrechtssituation in der Türkei leisertreten. Die andere: Wenn ihr, die einstigen „natürlichen“ Freunde der Türken, uns bei der Aufnahme in die EU nicht unterstützt, werden wir ein wenig Mißtrauen bei euren skeptischen Freunden säen. Die Financial Times als Forum der Attacke ist dabei gut gewählt. Denn auch Yilmaz weiß um das Mißtrauen der Briten gegenüber einem zu dominanten Deutschland innerhalb der EU. Und er weiß, daß mit unqualifizierten historischen Vergleichen in Großbritanien allemal noch ein paar Punkte zu machen sind.
Mit rationaler Politik haben die Äußerungen Mesut Yilmaz' dennoch wenig zu tun. Und sie werden die Türkei folglich keinen Millimeter näher an Europa heranführen. Für eine weitere Verschlechterung des ebenfalls gestörten Klimas zwischen Deutschen und Türken in Deutschland selbst taugen sie allerdings sehr wohl. Denn bei einem Teil der Deutschtürken, die sich gerne als die Juden von heute sehen, wird Yilmaz' kruder Geschichtsvergleich bereitwillige Aufnahme finden. Er wird sie in ihrer Auffassung bestärken, daß tatsächliche und vermeintliche Diskriminierungen, die fehlende Gleichstellungspolitik und persönlicher Lebensfrust irgendwie mit dem virulenten nationalsozialistischen Gen der Deutschen zu tun haben; daß sie sich in einem feindlichen Umfeld zu behaupten haben. Ein wenig mehr Verantwortungsgefühl kann auch von einem beleidigten Ministerpräsidenten erwartet werden. Eberhard Seidel-Pielen
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