■ Türkei: Der ungebrochene Machtanspruch des Militärs droht das Land künftig in algerische Verhältnisse zu stürzen: Kulturrevolution von oben
Am letzten Wochenende verabschiedete das Parlament in Ankara nach turbulenten Debatten ein neues Schulgesetz. Die Schulpflicht wurde um drei Jahre auf acht Jahre erhöht, gleichzeitig werden zahlreiche Koranschulen geschlossen. Diese Nachricht fand nur deshalb weltweite Beachtung, weil es bei dem Konflikt um weit mehr als die künftigen Bildungschancen türkischer SchülerInnen geht. Das Gesetz dient der kemalistisch-laizistischen Elite der Türkei als Knüppel gegen den Islamismus und ist ein wichtiger Bestandteil der neuen Containment-Politik, die im Februar dieses Jahres durch den türkischen Generalstab in Szene gesetzt wurde. Die türkische Bildungspolitik nimmt in dem Theaterstück „Kampf der Kulturen“, der Auseinandersetzung des Westens mit dem Islam, eine bedeutende Rolle ein. Die Türkei bringt alle Voraussetzungen mit, um zu einem wichtigen Aufführungsort dieses Schaukampfes zu werden.
Hier wird sich zeigen, ob der Westen es lernt, mit der islamischen Renaissance umzugehen. Durch die Türkei geht nicht nur geographisch die Grenze Europas zu Asien, die Elite des Landes bekennt sich seit den 20er Jahren zur europäischen Moderne, während ein großer Teil der Landbevölkerung immer islamischen Traditionen verhaftet geblieben ist. Daran ändert nichts, daß Atatürk bereits 1924 das Kalifat abschaffte und den Laizismus zur neuen Staatsdoktrin erklärte. Schleier, Fes und Turban wurden in der Öffentlichkeit verboten, die Moscheen unter staatliche Kontrolle gestellt, muslimische Bruderschaften und spirituelle Sufi-Orden verfolgt. Die Kulturrevolution von oben war so radikal, daß es seit 1936, als der letzte religiös motivierte Aufstand niedergeschlagen war, jahrzehntelang den Anschein hatte, als sei die Türkei tatsächlich ein säkularer Staat – fest in Europa verankert.
Erste Anzeichen, daß es sich bei der Säkularisierung um eine große Illusion handeln könnte, daß die Unterströmungen der Gesellschaft mit der Oberfläche durchaus nicht übereinstimmen, gab es bereits in den 50er, stärker sichtbar dann in den 70er Jahren. Wie in anderen Ländern wurde der Islam ein Mittel zur Kompensation der Enttäuschung über einen westlichen Lebensstil, der die erhoffte Partizipation an der Konsumgesellschaft auf eine kleine Oberschicht beschränkte. In der Türkei führten zwei weitere Faktoren zu einer Stärkung islamischer Lebensformen: die Ausstrahlung des Iran und die inländische Migration. Mit der Landflucht kam die dörfliche Kultur in die Zentren, gleichzeitig führte das neue islamische Selbstbewußtsein dazu, daß die Dorfkulturen nun nicht mehr so schnell assimiliert wurden und die Städte veränderten.
Trotzdem ist die Türkei im Vergleich zu allen anderen Ländern des Nahen Ostens, mit Ausnahme Israels, ein im westlichen Sinne modernes Land. Der städtische Mittelstand – die Oberschicht sowieso – orientiert sich an amerikanischen und europäischen Vorbildern, fühlt sich mit Berlin oder Brüssel viel eher verbunden als mit Teheran. Eigentlich gute Voraussetzungen, um kontrovers um Werte und Normen zu streiten, Veränderungen im größtmöglichen Konsens durchzusetzen. Dafür fehlt allerdings eine entscheidende Voraussetzung: Die Türkei ist bis heute keine zivile Gesellschaft. Die Kulturrevolution wurde in den 20er Jahren vom Militär diktiert, bis in die 50er Jahre war die Türkei ein vom Militär kontrollierter Einparteienstaat. Die Anlehnung an die USA nach 1945 zwang zwar auch die Türkei, konkurrierende Parteien an Wahlen teilnehmen zu lassen. Wirklich akzeptiert hat die kemalistische Elite den damit verbundenen Machtverlust nicht. Bereits 1961 putschte das Militär und ließ Ministerpräsident Adnan Menderes, einen rechten Politiker, der den Bau von Moscheen förderte, hinrichten. Militärputsche wiederholten sich 1971 und 1980.
Bis heute beansprucht das Militär, der Garant des modernen türkischen Nationalstaates zu sein, sieht das Militär sich als den eigentlichen Souverän des Landes. Immer dann, wenn es ernst wurde, die kemalistischen Prinzipien vermeintlich in Gefahr waren, intervenierte das Militär. Eine Zivilgesellschaft kann sich so nicht entwickeln. Statt dessen spielen Politiker ein bißchen Demokratie und sorgen in erster Linie für ihren und den Geldbeutel ihrer Klientel. Die eigentliche Verantwortung für das politische System hat das Militär nie aus der Hand gegeben. Auftretende Konflikte – sei es die Reislamisierung unter Menderes, die revolutionäre Linke der 70er Jahre oder die Forderungen der Kurden – löst es auf die ihm eigene Weise: extrem gewalttätig.
Im Westen dominieren zur Zeit zwei Betrachtungsweisen der Entwicklung in der Türkei: Die Anhänger der Kulturkampftheorie sehen einen neuen Dschihad. Dabei müßte es zunächst darum gehen, eine jahrzehntelang unterdrückte gesellschaftliche Realität wieder zur Kenntnis zu nehmen. Der Islam war nie tot, er durfte sich nur lange nicht zeigen. Die anderen verweisen auf die Unterschiede zwischen Ägypten, dem Iran und Algerien auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite. Der Wohlstand sei immerhin so „gerecht“ verteilt, daß auch die Armen noch etwas zu verlieren haben. Wer etwas zu verlieren hat, so die Hoffnung, geht nicht bewaffnet in den Untergrund.
Letzteres stimmt zwar, könnte sich aber schnell ändern, wenn auch die neue Regierung in den Augen der Generäle versagt und die dann in gewohnter Weise eingreifen. Oder wenn das Militär repressiv und unter Anwendung massiver Gewalt die Islamisten bekämpft. Wenn die türkische Regierung im Auftrag der Militärs jetzt versucht, die Wohlfahrtspartei Erbakans an die Wand zu drängen und ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen, wird diese sich wehren. Eine Demütigung Erbakans hätte wahrscheinlich zur Folge, daß militante islamische Gruppen sich von der Wohlfahrtspartei abspalten und tatsächlich gewaltsam agieren. Das 1993 von Islamisten angezettelte Pogrom in Sivas, bei dem 36 alevitische Intellektuelle in einem Hotel verbrannt wurden, zeigt, daß bei den Islamisten durchaus ein gewalttätiges Potential vorhanden ist. Bislang konnte Erbakan dieses in seine Politik integrieren. In naher Zukunft könnte sich eine Gewaltspirale in Gang setzen, die die Türkei an den Rand algerischer Verhältnisse bringt. Der Westen sollte sich fragen, ob es wirklich klug ist, das Militär als Garanten einer laizistischen Türkei zu unterstützen. Militärische Siege gegen islamische Fundamentalismen rächen sich bitter. Jürgen Gottschlich
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