Tschernobyl in der taz: Vor der Entwarnung wird gewarnt
Wenn alle behaupten, es gebe kein Problem, wird Gegenöffentlichkeit lebensnotwendig, wie die taz bewiesen hat.
Der Reaktor explodierte am 26. April 1986. Zwei Tage lang erfuhr die Öffentlichkeit nichts.
Dann folgten ein Dementi aus Moskau und schließlich fünf dürre Zeilen der Bestätigung. Die ersten Stimmen der Gegenöffentlichkeit kamen aus dem schwedischen Atommeiler Forsmark. Dort war am 28. April stark erhöhte Radioaktivität gemessen und das Kraftwerk panisch geräumt worden. Doch die Strahlung kam von außen, aus Südosten.
Die schwedischen Expert*innen waren überzeugt: In der Sowjetunion musste etwas passiert sein. Moskau bestritt dies, bis um 21.08 Uhr Ortszeit die Nachrichtenagentur Tass die Befürchtungen bestätigte: „Im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine hat sich eine Havarie ereignet. Ein Reaktor ist beschädigt. Es werden Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen ergriffen. Den Betroffenen wird Hilfe erwiesen.“
Die taz war zu diesem Zeitpunkt längst gedruckt – mit einer Falschmeldung: „Schwedisches AKW strahlt“. Erst am nächsten Tag wurden die Zusammenhänge klar und die Redaktion stürzte sich in eine Berichterstattung, die schon vom Umfang her alles übertraf, was in anderen Blättern stand. Monatelang beherrschte Tschernobyl die Zeitungsproduktion und das Befinden der Mitarbeiter*innen. Es war die größte journalistische Herausforderung in der Geschichte der taz. Alle hatten begriffen, was auf dem Spiel stand.
2. Juni 1967: Ein Schuss tötet den Demonstranten Benno Ohnesorg. Dieses Datum markiert den Beginn einer bis heute geführten Debatte über Gegenöffentlichkeit, über die Medien, über Wahrheit und Lüge, oder, wie man heute formulieren würde, über Fake News und alternative Fakten, über Verschwörungstheorien, bürgerliche Zeitungen und alternative (auch rechte) Blätter, über die „Wahrheit“ und die Deutungshoheit gesellschaftlicher Entwicklungen. Nachdenken über 50 Jahre Gegenöffentlichkeit: taz.gegen den stromDie Sonderausgabe taz.gegen den strom – jetzt im taz Shop und auf www.taz.de/gegenoeffentlichkeit
Die Nachrichtenlage war dünn. Moskau hatte eine Nachrichtensperre verhängt, nur wenige Informationen sickerten durch den eisernen Vorhang. Die taz war auf ihre eigenen Expert*innen angewiesen. Am 30. April prägte der Bremer Physiker Jens Scheer im Interview den Begriff „Super-GAU“. Regierungssprecher Friedhelm Ost (CDU) nannte zeitgleich „unsere“ Reaktoren „die sichersten der Welt“, ein ähnlicher Unfall sei „hier ausgeschlossen“. Jens Scheer: Ein Super-GAU sei auch im Westen jederzeit möglich.
Die erste Opferzahl meldete die US-Nachrichtenagentur UPI drei Tage nach der Explosion: 2000 Tote. Die Würde der Opfer verlangt Aufrichtigkeit. Doch mit den Toten und Verstrahlten von Tschernobyl wurde von Beginn an jongliert, als ginge es um die Ziehung der Lottozahlen.
Nukleare Hardliner ließen nur die 31 Soforttoten als echte Opfer der Katastrophe gelten, Vulgärapokalyptiker*innen sprachen schnell von Millionen Opfern. Seriöse Abschätzungen waren schwierig, da lange unklar blieb, wie viele Helfer*innen („Liquidatoren“) direkt am Reaktor gegen das atomare Feuer gekämpft hatten und wie viel Radioaktivität aus dem zerfetzten Reaktor in die Umwelt gelangt war. Es gab nur statistische Berechnungen, Schätzungen, Wahrscheinlichkeiten.
Gegenöffentlichkeit – das bedeutete für die taz, den offiziellen Statements und Zahlen mit dem gebotenen Misstrauen zu begegnen und klarzumachen, wer welche Interessen vertritt. Die heute noch bei Wikipedia genannte, grob verharmlosende Zahl von 4.000 Toten geht auf einen gemeinsamen Bericht der Vereinten Nationen, der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationalen Atomenergie-Agentur (IAEA) zurück.
Die IAEA hat die Aufgabe, Atomkraft weltweit zu verbreiten. Sie ist eine Propagandistin des Alles-halb-so-schlimm – IAEA-Spott: „Sie lügen, dass sich die Brennstäbe biegen!“ Ihr langjähriger schwedischer Direktor Hans Blix gibt nach Tschernobyl zu Protokoll: „Angesichts der Wichtigkeit der Kernenergie könnte die Welt einen Unfall vom Ausmaß Tschernobyls pro Jahr durchaus ertragen.“ Bis heute darf die WHO zu gesundheitlichen Fragen der Atomenergie nur in Abstimmung mit der IAEA Stellung nehmen.
Gegenöffentlichkeit nach Tschernobyl hieß zunächst, den Verlautbarungen der Sowjets, der Regierung Kohl, der Atomindustrie und der Expert*innen von Strahlenschutzkommission und Gesellschaft für Reaktorsicherheit die Einschätzungen kritischer Fachleute entgegenzusetzen.
Für den Kampf um die Deutungshoheit der Katastrophe war die taz gut gerüstet. In den sieben Jahren ihrer Existenz hatte sie nicht nur enge Beziehungen zu den Bürgerinitiativen entwickelt und sich tief in die Reaktortechnik versenkt. Sie pflegte auch innigen Kontakt zu den „Turnschuhwissenschaftlern“ in den neu gegründeten Umwelt- und Öko-Instituten.
Strahlenschutzkommission und Gesellschaft für Reaktorsicherheit waren dagegen ohne Ausnahme mit Atombefürworter*innen besetzt. Sie gehörten zu jenem Atomgemeinde genannten, religiös-ideologisch zementierten Konglomerat aus Politik, Industrie, Wissenschaft und Polizeiapparat, das ganz auf die Erlöserphantasie der Atomkraft fixiert war.
Jahrgang 1953, freier Journalist und Autor. Von 1980 bis 1990 Ökologie-Redakteur bei der taz. Später war er Chefredakteur bei der Zeitschrift Slowfood und von 2008 bis 2014 beim Umweltmagazin zeo2.
Abend für Abend traten Expert*innen im TV vor die Kamera und beruhigten das Volk. Es waren dieselben, die einen Super-GAU für unmöglich gehalten und die „robusten“ sowjetischen Kraftwerke gelobt hatten. „Glaubt ihnen kein Wort“, sagte der Physiker Lothar Hahn vom Öko-Institut, „die Informationspolitik der Bundesregierung ist kriminell!“ Morgens in der taz kamen die anderen Expert*innen zu Wort.
Harald Schumann, in der heißen Phase für die Tschernobyl-Berichterstattung hauptverantwortlich, erinnert sich: „Meine wichtigsten Informationsquellen waren Greennet, ein Netzwerk von Umweltgruppen und die Öko-Institute, mit denen die taz damals eine Art operative Einheit bildete: Öko-Institut, IFEU Heidelberg, Umweltinstitut München, Prof. Lutz Mez von der Freien Universität in Berlin (FU), das war der wissenschaftliche Support.“
In der historischen Rückschau ist leicht zu erkennen, wer damals verantwortlicher, klüger und wahrhaftiger auf die Katastrophe reagiert hat. Sieben Monate nach Tschernobyl attestierte eine repräsentative Umfrage von Kölner Soziologen (Peters et al.), dass die Gegenexpert*innen glaubwürdiger waren. Die Havarie des Atom-Establishments wurde in mehreren Bürgerbefragungen bestätigt.
Gesundbeten und Niederknüppeln
Je misstrauischer und ängstlicher die Bürger*innen wurden, desto stärker versuchten staatliche Stellen die Gefahr herunterzuspielen.
Was im Gegenzug die Menschen noch misstrauischer machte. Für die Bundesregierung war die (kommunistische!) Radioaktivität weniger gefährlich als „die Panikmache“ und „neue Teufelsaustreiberei der Kernkraft“, so Franz Josef Strauß. Doch warum wurden dann Salat und Gemüse auf deutschen Äckern untergepflügt, warum tickten die Geigerzähler wie verrückt, wenn Lastwagen aus dem Osten die Grenze passierten?
Zuzugeben, dass man nicht wusste, wie gefährlich dieses schwerste Unglück der Industriegeschichte war, kam für Politik und Atomgemeinde nicht infrage. Sie versuchten die Katastrophe gesundzubeten, um den mit Polizeiknüppeln durchgesetzten Atomkurs nicht zu gefährden.
Als pünktlich zum 1. Mai die radioaktive Wolke Kurs auf Deutschland nahm, erklärte Innenminister Friedrich Zimmermann (CSU) via ARD und ZDF: „Eine Gefährdung der Bürger in der Bundesrepublik ist absolut auszuschließen.“ Sein Argument: Tschernobyl „ist 2000 Kilometer entfernt“. Die taz antwortete mit der Schlagzeile: „Vor der Entwarnung wird gewarnt.“ Als einzige Zeitung empfahl das Blatt nach Rücksprache mit FU-Meteorologen, die Kinder am 1. Mai einzusperren.
Die taz schwamm auf einer Glaubwürdigkeitswelle (Schumann), die mit jeder neuen Beschwichtigung zunahm. Bald startete die Redaktion kleine Volkshochschulkurse: Was ist ein Rem, Curie, Becquerel, wie misst man Radioaktivität, wie sind die Grenzwerte einzuschätzen? Katastrophennachhilfe.
Gegenöffentlichkeit als Gründungsimpuls
In den deutschen Medien arbeiteten nur wenige Kolleg*innen, die wussten, was eine Reaktorexplosion bedeutet. Und ausgerechnet die „Tagesschau“ zeigte ein Foto vom zerstörten Reaktor, das von sowjetischen Expert*innen retuschiert worden war.
Als Zentralorgan der Atomgegner*innen und als einzige Zeitung, die sich von Anfang an eine Ökologieredaktion leistete, hatte die taz sich jahrelang mit dem nuklearen Worst Case befasst. Die Motivation, Gegenöffentlichkeit herzustellen, wurde nicht erst aus dem Super-GAU geboren. Sie war der Gründungsimpuls der taz.
Und sie war gerade in der Umwelt- und Energiepolitik, die stark vom Verleugnen der Probleme und ideologischen Schützengräben gekennzeichnet war, eine Daueraufgabe. Typisch für die damalige taz-Umweltseite war die samstägliche Atomwochenchronik, in der alle „Vorkommnisse“ der Atomindustrie weltweit dokumentiert wurden.
Die taz schlug nicht nur Alarm, sie veröffentlichte auch bald erste Messungen. Zahllose Menschen brachten Geigerzähler in Stellung und übermittelten ihre Befunde. Daraus entstand die Becquerel-Bewegung. Vor allem junge Eltern beachteten die regelmäßig in der taz publizierten ellenlangen Listen belasteter Lebensmittel. Honig bitte nur aus Kanada, Pilze lieber gar nicht.
Pflichtgetreue und oberflächliche Berichterstattung
Die taz berichtete über die Demonstrationen nach Tschernobyl (Bestes Transparent: „Wer isst jetzt noch Kohl?“), sie druckte Positionspapiere und Diskussionsbeiträge der Bürgerinitiativen und Grünen: „Die Angst in Widerstand packen!“, schrieb Grünen-Vorstand Rainer Trampert. Auch die Anschläge auf Strommasten und Bahngleise wurden von der Ökoredaktion freudig notiert.
Tschernobyl ist bis heute ein schwieriges Thema geblieben mit pflichtgetreuer, aber oft oberflächlicher Berichterstattung an den Jahrestagen. Das Ausmaß der gesundheitlichen Folgen wird in den offiziellen Reports nicht annähernd wiedergegeben. Die Toten und Kranken, die Heimatlosen und Traumatisierten sind weitgehend im statistischen Rauschen verschwunden.
Auch die Mädchenlücke: Nach Tschernobyl sind in vielen Regionen Europas im Geschlechterverhältnis zu wenig Mädchen auf die Welt gekommen. Solche News haben im Informationsgewitter des Internets keine Chance.
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