: Trotz alledem
Betr.: Rote Flora, taz hamburg, diverse Berichte
Mit wachsender Irritation verfolge ich die Debatte um die Krawalle im Schanzenviertel in der Nacht zum 1. Mai. Als jemand, der seit 12 Jahren in diesem Viertel lebt und der sich politisch bislang immer links von der Mitte eingeordnet hat, bin ich besonders erbost über die Äußerungen aus GAL und Regenbogen-Gruppe. Deren Versuch, die Kritiker der Ereignisse in die Nähe des rechten Spektrums zu rücken, empfinde ich als schlimm und obendrein absurd, da das Verhalten der „Mai-Demonstranten“ eine solche Einordnung viel eher verdient.
Dass aus dem sog. autonomen Hintergrund kristallnachtsmäßig gegen diejenigen gewütet wird, die sich vorbehalten, eine eigene Meinung zu haben und diese auch zu äußern, ist der Höhepunkt einer höchst befremdlichen Entwicklung im Schanzenviertel. Schon seit langem wird massiver Druck auf die Ladeninhaber und Bewohner des Viertels ausgeübt, die sich kritisch mit den Details der bestehenden Verhältnisse auseinandersetzen.
Wer versucht, sich gegen die ständige Präsenz von Dealern, Pissern und Schreiern vor seiner Tür zur Wehr zu setzen, wird mit Vokabeln wie Rassist, Yuppie oder ähnlichem aus dem „Volksfeind“-Katalog belegt, Einschüchterung bzw. Bedrohung folgen. Da die selbsternannten Blockwarte überwiegend auf bzw. an der roten Flora Flagge zeigen, können sich deren jetzt in Bedrängnis geratene Aktivisten bei ihnen für den momentanen Stress bedanken.
Die Mehrzahl der Politiker/innen, die derzeit ihre Meinung in den laufenden Debatten zum besten geben, haben offenbar ebenso wenig Ahnung von den Verhältnissen im Viertel wie die vielfach angereisten Jung-Anarchos. Wir alle leben gern hier und das zu fast 100 Prozent mit einer weit größeren Toleranz untereinander wie gegenüber den Auswüchsen, als man sie sonst irgendwo in der Stadt findet. Deswegen müssen wir uns aber weder mit der nächtlichen Straßenhoheit unangenehmer Dunkelmänner und ihrem Tun abfinden noch mit den dämlichen Aktionen einiger Linksfaschisten.
Aber die Blindheit mancher Politiker auf dem linken Auge ähnelt hier durchaus der Anderer auf dem rechten. Die falsch verstandene Solidarität der Rotfloristen darf schon aus diesem Grund nicht folgenlos bleiben. Deshalb über einen Abriss der Flora nachzudenken, versteht man hier jedoch genauso wenig, wir liebens trotz alledem weiter bunt.
Gruß aus der Schanze
Arnim Dahlen
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