Tribunal gegen Rote Khmer: Mühsamer Weg zur Wahrheit
Fast 34 Jahre nach der Vertreibung der Roten Khmer stehen einige der Anführer vor Gericht. Die heutige Regierung will den Schlussstrich ziehen.
PHNOM PENH taz | Eine gute Autostunde vom Zentrum Phnom Penhs entfernt findet derzeit – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – ein historisches Tribunal statt: Fast 34 Jahre nachdem die Roten Khmer im Januar 1979 aus der Hauptstadt Kambodschas vertrieben wurden, stehen Anführer des damaligen Regimes vor Gericht. Unter ihrer Herrschaft, zwischen 1975 und 1979, kamen etwa 1,7 Millionen Kambodschaner, rund ein Viertel der Bewohner des Landes, ums Leben.
2011 hat das zweite Verfahren des Völkermord-Tribunals begonnen, das mit Hilfe der UNO in Kambodscha installiert wurde. In einem ersten Prozess war der ehemalige Chef des Foltergefängnisses der Roten Khmer, Kaing Guek Eav, genannt Duch, im vergangenen Jahr zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden.
Jetzt sollen sich die drei ranghöchsten noch lebenden Führer der Organisation vor Gericht verantworten: die Nr. 2 in der Hierarchie der Roten Khmer, Nuon Chea, Exstaatspräsident Khieu Samphan und Exaußenminister Ieng Sary.
60.000 Zuschauer
Auf der Anklagebank sitzt an diesem Nachmittag nur Expräsident Khieu Samphan. Einer der Ankläger befragt gerade eine ehemaligen Mitarbeiterin des Informationsministeriums, die am Tisch des Zeugenstandes vor der Richterbank Platz genommen hat. Ihre Aussagen sollen Aufschluss darüber geben, wie die Kommunikation während des damaligen Regimes funktioniert hat.
Unter dem Schreckensregime der Roten Khmer starben in den Jahren 1975 bis 79 geschätzt 1,7 Millionen Kambodschaner. Die Gruppierung unter ihrem Führer Pol Pot nannte sich selbst „Revolutionäre Organisation“ (Angkar), sie wurde aber als „Rote Khmer“ international bekannt. Unmittelbar nach ihrem Sieg über das CIA-gestützte Regime des Diktators Lon Nol, begannen die Roten Khmer, ihre Vorstellungen von einem „vollen Kommunismus“ maoistischer Prägung in Kambodscha umzusetzen: Sie entleerten die Städte, zwangen die Bewohner zur Feldarbeit, ermordeten systematisch alle „Klassenfeinde“. Hunderttausende verhungerten, viele starben an behandelbaren Krankheiten oder an Überarbeitung.
Das Rote-Khmer-Tribunal nahm 2006 seine Arbeit auf. Seine Aufgabe: die Verbrechen der Roten Khmer zu untersuchen und die Hauptverantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Strafgerichtshof setzt sich aus kambodschanischen und internationalen Richtern zusammen. Er soll von politischen Weisungen unabhängig sein. 2010 verurteilte er Kaing Guek Eav alias "Duch", den ehemaligen Leiter des Foltergefängnisses S-21, zu 35 Jahren Gefängnis. Die Strafe wurde später in lebenslange Haft umgewandelt.
Die meisten hochrangigen Führer der Roten Khmer lernten sich beim Studium in Frankreich in den fünfziger Jahren kennen. Ihr Gründer und die Nummer 1 der Hierarchie war Pol Pot. 1998 starb er nach einem Streit innerhalb der Organisation in einem Lager an der Grenze zu Thailand, wo er nach der Vertreibung aus Phnom Penh schließlich in einem sogenannten „befreiten Gebiet“ lebte. Sein Grab liegt im Grenzort Anlong Veng.
Die Nummer 2 in der Hierarchie, Nuon Chea, galt als Chefideologe der Organisation. Er lief 1998 zu Hun Sen über – und lehnte bislang jedes Reuebekenntnis ab. Expräsident Khieu Samphan galt als intellektueller Kopf der Organisation. Beide stehen jetzt gemeinsam mit Exaußenminister Ieng Sary vor Gericht. Ieng Sarys Ehefrau Ieng Thirit soll inzwischen dement sein, daher wird keine Anklage gegen sie erhoben.
In den Zeiten des Kalten Krieges überlebte die Organisation auch nach ihrer Vertreibung durch die Truppen des vietnamesischen Nachbarlands aus Phnom Penh mit Hilfe von Waffen, Geldern und politischer Rückendeckung durch China, die USA und Thailand. Der kambodschanische Bürgerkrieg endete erst mit dem Friedensabkommen und mit Hilfe der UNO Anfang der 90er Jahre.
Auf den Zuschauerrängen, die durch dicke Glasscheiben vom Verhandlungsraum getrennt sind, sitzen rund 300 Kambodschaner. An jedem Verhandlungstag bringen Mitarbeiter des Tribunals mehrere hundert Menschen aus ganz Kambodscha zu dem Gericht. Mehr als 60.000 Kambodschaner konnten so die Verfahren bisher verfolgen.
Für die Befürworter des Tribunals, das 2006 nach langem Hin und Her und viel Streit zwischen der heutigen Regierung unter Premier Hun Sen und der UNO eröffnet werden konnte, geht seine Bedeutung weit über die reine Aburteilung der Verantwortlichen für die unzähligen Todesopfer des Regimes hinaus. Es sollte, so die Hoffnung, erstmals auch die Aufarbeitung der Verbrechen von damals ermöglichen.
Behinderung der Ermittler
Jedoch überschattet eine tiefe Kontroverse die Arbeit des Gerichts. Vor einem halben Jahr legte der Schweizer Laurent Kasper-Ansermet sein Amt als internationaler Ermittlungsrichter unter Protest nieder. Begründung: Sein kambodschanischer Amtskollege habe ihn wiederholt daran gehindert, Ermittlungen gegen fünf weitere Verdächtige durchzuführen, die für zigtausende Tote verantwortlich sein sollen.
Premier Hun Sen selbst hat mehrfach gefordert, dass das Tribunal seine Arbeit nach dem Urteil gegen die derzeit angeklagten drei Anführer der Roten Khmer beendet. Hun Sen war, bevor er sich gegen die Roten Khmer stellte und sie gemeinsam mit den vietnamesischen Truppen 1979 stürzte, selbst Kommandeur der Roten Khmer gewesen.
Auch andere führende Mitglieder seiner Regierung standen den Roten Khmer damals nahe. Einer von denen, die das Tribunal an sich deshalb in Frage stellen, ist der Anwalt Jasper Pauw. Der 37-jährige Niederländer vertritt „Bruder Nr. 2“ Nuon Chea, den ehemaligen Chefideologen der Roten Khmer. Dessen Vorstellungen von einer gleichgeschalteten Bauerngesellschaft, die alle angeblichen Feinde „zerschmettert“ – wie es damals wortwörtlich hieß –, bildeten die Grundlage des mörderischen Regimes.
Eklat im Gerichtssaal als Strategie der Verteidigung
In den vergangenen Wochen haben Pauw und seine Kollegen das Tribunal ganz bewusst provoziert: Sie beharrten zum Beispiel darauf, Zeugen vorzuladen, die bestätigen sollten, dass führende Mitglieder der derzeitigen Regierung in die Morde der Roten Khmer verwickelt waren.
Kritiker bemängeln, Pauw und seine Kollegen wollten das Tribunal an den Rand des Zusammenbruchs bringen und so dafür sorgen, dass ihr Mandant freikommt. Pauw verteidigt seine Strategie: „Wir denken, dass es wichtig ist, diese Fragen aufzuwerfen“, sagt er. „Jeder Mord, den jemand anderes begangen hat, hat – sehr vereinfacht gesagt – unser Mandant nicht begangen, was seine Schuld mindert.“
Die Frage, ob sein Mandant verurteilt wird, hängt nicht von seiner Schuld ab, sondern vom Willen des Premiers, sagt Pauw. „Wenn man Hunderte Millionen Dollar für ein internationales Tribunal ausgibt, sollte man zumindest sicherstellen, dass es fair und unabhängig ist. Dieses Tribunal ist aber nicht fair und unabhängig.“
Auch der Australier William Smith, stellvertretender Ankläger am Tribunal, räumt ein, dass es Versuche der Regierung gegeben hat, auf die Arbeit des Tribunals Einfluss zu nehmen. Er sagt: „Es hat definitiv Äußerungen gegeben, wonach sich die Regierung keine weiteren strafrechtlichen Verfolgungen neben den derzeit laufenden wünscht.“
Allerdings gehe er davon aus, sagt Smith, dass beide Seiten ein Interesse an weiteren Ermittlungen hätten – jedenfalls solange die kambodschanische Regierung und die Vereinten Nationen das Tribunal nicht aufkündigten.
Erst kürzlich hat der Amerikaner Mark Harmon seine Arbeit als neuer internationaler Ermittlungsrichter am Tribunal aufnehmen. Harmon war 17 Jahre lang Ankläger am Jugoslawien-Kriegsverbrecher-Tribunal in Den Haag und gilt als sehr integer. Harmon gibt derzeit keine Interviews. In der Presseerklärung des Gerichts heißt es, Harmon werde die Arbeit zu „den beiden verbleibenden Fällen […] fortsetzen.“ Viele seiner Kollegen erwarten, dass er die festgefahrenen Ermittlungen vorantreibt.
Darauf hofft auch William Smith, der Ankläger. Er glaubt, ein Jurist wie Harmon werde sich nicht damit zufrieden geben, wenn Ermittlungen zu schweren Verbrechen still zu den Akten gelegt würden. „Ich hoffe, dass seine Ernennung ein positives Zeichen dafür ist, dass diese festgefahrenen Fälle nun ohne Unterbrechungen und ohne Druck fortgeführt werden können.“
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