Trauerbegleiter über Obduktionspflicht bei Kindern: "Die Unversehrtheit ist wichtig"
Eine Obduktionspflicht bei Kindern, die aus ungeklärter Ursache sterben, lehnt Trauerbegleiter Heiner Melching ab. Die wird in Bremen geplant und in Hamburg diskutiert - um Misshandlungen aufzudecken.
taz: Herr Melching, welche Folgen hätte eine Obduktionspflicht bei verstorbenen Kleinkindern für die Eltern?
Heiner Melching: Sie kann dem Trauerprozess schaden. Die Ohnmacht, die Eltern nach dem Tod ihres Kindes ohnehin erleben, würde noch potenziert: Das Kind wird ihnen weggenommen, sie wissen nicht, was genau mit ihm geschieht und wer es anrührt. Bei lebenden Kindern sucht man sich die Ärzte ja auch sehr genau aus - solche Gefühle der Verantwortung hören mit dem Tod nicht automatisch auf.
Die Debatte darüber tobt im politischen Raum: In Bremen fordert die Sozialsenatorin die Einführung der Pflicht, auch in Hamburg wird darüber diskutiert. Wurden Sie als Fachleute dazu angefragt?
Kinder bis sechs, die ohne erkennbare Ursache sterben, will Bremens Sozialsenatorin Ingelore Rosenkötter (SPD) regelhaft obduzieren lassen. Bremen wäre das erste Bundesland, das Obduktionen bei Kindern gesetzlich vorschreibt.
Die Dunkelziffer bei Kindstötungen dient ihr zur Begründung: Studien hätten bei etwa drei Prozent der Fälle von plötzlichem Kindstod Tötungen nachgewiesen.
Uneinigkeit herrscht bei dem Thema im Bremer Senat: Ethische Bedenken äußerte Umweltsenator Reinhard Loske (Grüne). Nun will man sich bis 13. April auf einen Kompromiss zur nötigen Gesetzesänderung einigen.
Bislang entscheiden die Ärzte beim Ausstellen des Totenscheins, ob sie die Staatsanwaltschaft einschalten. Diese kann dann im Verdachtsfall eine Obduktion anordnen.
In Hamburg fordert der SPD-Jugendpolitiker und Bürgerschaftsabgeordnete Thomas Böwer die Obduktionspflicht - mit ähnlichen Argumenten wie in Bremen.
2008 hätte die Pflicht in Bremen bei vier von 37 verstorbenen Kindern gegriffen, in Hamburg bei sieben von 59.
Heiner Melching, 47
ist Sozialpädagoge und Trauerbegleiter beim Verein für verwaiste Eltern und Geschwister in Bremen (www.verwaiste-eltern-bremen.de), der zurzeit 500 Familien betreut. Seit November 2009 Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.
Nein, leider nicht.
Finden Sie den Vorstoß denn sinnvoll?
Nein. Die Entscheidung muss im Grundsatz bei den Eltern liegen, es sei denn, es gibt Hinweise auf Misshandlungen.
Wie wichtig ist es, dass Eltern das Kind vor der Beerdigung noch einmal sehen können?
Die Möglichkeit ist unerlässlich. Wir ermutigen Eltern grundsätzlich dazu. Viele Eltern waschen ihre toten Kinder, ziehen sie sorgsam an, manche machen Fotos. Ein reales traumatisches Bild ist leichter zu verarbeiten als Phantasiebilder. Eltern, die ihr Kind nicht mehr gesehen haben, brauchen nach unserer Erfahrung erheblich länger, um den Tod überhaupt zu realisieren - der ist für sie etwas schier Unglaubliches.
Kann man ein Kind nach einer Obduktion denn nicht mehr sehen?
Ja schon, aber die Unversehrtheit des Körpers spielt dabei eine große Rolle: Ein Kind muss so aussehen, dass die Eltern es verabschieden können - auch nach einer Obduktion. Das ist in Bremen nach meiner Erfahrung nicht immer der Fall.
Wie meinen Sie das?
Wir können leider nicht sagen, dass die Bremer Rechtsmedizin in der Vergangenheit immer würdevoll mit toten Kindern umgegangen ist. Uns sind Fälle bekannt, bei denen die Rechtsmedizin Monate nach der Beerdigung bei Eltern angefragt hat, was denn mit Organen des Kindes passieren soll, die noch in der Pathologie lagern.
Was löst so etwas aus?
Schreckliche Filme in den Köpfen der Angehörigen. Deshalb fordern wir, dass die Rahmenbedingungen in der Rechtsmedizin verbessert werden: Dass den Eltern auf Wunsch die Ärzte vorgestellt werden und dass ihnen der Ablauf erklärt wird.
Verbände von Kinderärzten behaupten, es sei langfristig eine Entlastung für die Eltern, durch eine Obduktion die genaue Todesursache erfahren zu können.
Bei einer unklaren Todesursache entscheidet sich bereits jetzt die Hälfte der Eltern für eine Obduktion. Wir erleben dabei immer wieder, dass das Ergebnis neue Fragen aufwirft: Hat das Kind den Gendefekt von mir? Habe ich während der Schwangerschaft doch mal eine Zigarette geraucht? Das macht die Verarbeitung des Todes nicht zwangsläufig einfacher.
Warum entscheiden sich Eltern für oder gegen eine Obduktion?
Eltern wollen eine Obduktion selten nur einfach so, um zu wissen, was die Todesursache war. Meist haben sie weitere Kinder oder möchten noch welche. Dann steht die Frage nach genetischen Ursachen im Raum. Denen, die sich dagegen entscheiden, geht es hauptsächlich um die Unversehrtheit des Körpers. Der ist für sie keine tote Masse, sondern immer noch ihr Kind, das sie beschützen wollen.
Haben vielleicht nicht gerade die etwas zu verbergen, die eine Obduktion ablehnen?
Das mag sein, aber diese Eltern suchen uns in der Regel nicht auf. Bei den Eltern, die wir betreuen, ist es glaubhaft, dass es ihnen tatsächlich nur um die Unversehrtheit geht. Man muss sich auch vor Augen führen, dass nur ein ganz kleiner Teil der Eltern Schuld am Tod ihres Kindes hat. Es steht in keinem Verhältnis, deshalb allen eine Obduktion zuzumuten.
Was brauchen Eltern unmittelbar nach dem Tod eines Kindes?
Vor allem Zeit. Der Druck ist meist sehr hoch. Oft haben die Angehörigen nicht einmal eine Nacht Zeit, über die Entscheidung für oder gegen eine Obduktion zu schlafen. Ähnlich ist die Situation bei Organspenden. Wenn wir Beerdigungen organisieren, warten wir manchmal bis zu zwei Wochen, damit die Eltern es schaffen, ihr ohne eine Höchstmaß an Beruhigungsmitteln beizuwohnen.
Der Bremer Gesetzesentwurf sieht vor, dass Eltern binnen 24 Stunden Widerspruch gegen eine Obduktion einlegen können. Wäre das ein Kompromiss?
Nein. Warum sollen Eltern in die Pflicht genommen werden, in einer solchen brutalen Schocksituation einen Widerspruch zu formulieren - und das vermutlich auch noch frist- und formgerecht? Ich kenne Eltern, die nach dem Tod ihres Kindes erstmal komplett verstummen. Von der Aufklärung über Rechte und Pflichten kommt in solchen Situationen oft nur ein Bruchteil an. Eine Frist von 24 Stunden ist da ein sehr abstrakter Begriff.
Was fordern Sie stattdessen?
Die Pflicht sollte umgedreht werden: Diejenigen, die die Zwangsobduktion fordern, sollten verpflichtet werden, sich ein Bild von den Familien zu machen. In Pflichtanhörungen und -gesprächen mit Eltern, etwa beim Amt für Soziale Dienste, würde sich sicher zeigen, bei wem Zweifel daran bestehen, ob für das Kind Sorge getragen wurde. Für diese Fälle könnte man sich immer noch die Möglichkeit einer Obduktion vorbehalten - oder man findet zu der Frage einen Konsens mit den Familien.
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