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Trapezartist über Angst„Dieses Spiel mit der Schwerkraft“

Der Artist Moritz Haase hat in Berlin ein Flugtrapez-Projekt aufgebaut. In der Höhe lerne man auch, die Grenzen der Angst zu verschieben, sagt er.

Körperbeherrschung ist schon nötig: Moritz Haase gelenkig in einem Berliner Park Foto: Jens Gyarmaty
Interview von Svenja Bergt

wochentaz: Herr Haase, wenn Sie auf Ihrem Flugtrapez stehen – in etwa 7 Metern Höhe, die Trapezstange in der Hand und auf der anderen Seite schwingt schon die Fängerin, in deren Hände Sie gleich springen müssen – was ist da in Ihrem Kopf?

Moritz Haase: Im besten Fall ist da nur der nächste Moment. Der nächste Schritt, den ich gehen, der nächste Griff, den ich machen, der nächste Schwung, den ich nehmen muss. Dann sind alle Unsicherheiten weg. Zum Beispiel, dass etwas in den Proben davor noch nicht ganz so gut geklappt hat. Dann denke ich nicht ans Ende, also daran, ob der Fang klappt, sonst habe ich schon verloren. Sondern nur an den Augenblick.

Das Flugtrapez von Ihnen und Ihrer Gruppe steht unter freiem Himmel, meist in Parks. Da schauen auch bei den Proben Menschen zu, das Wetter verändert sich und dann kommt eine Gruppe mit Boombox und Bollerwagen vorbei. Wie schaffen Sie es, alles um sich herum auszublenden?

Das schaffe ich gar nicht immer. Und das braucht auch Training – genau wie das Körperliche, nur eben im Kopf. Wobei die Ablenkung von außen gar nicht so das Problem ist. Schwieriger ist das Innen. Etwa die ersten Male, wenn man etwas neu macht und zum Beispiel die Longe, also die Sicherheitsgurte weglässt, das ist schon anspruchsvoll. Da helfen dann die Kollegen, die sagen, du kannst das, das haben wir ganz oft geübt.

Was passiert, wenn das mit dem Abschalten nicht klappt?

Dann kann es sein, dass ich abbreche. Dann lasse ich mich entweder ins Netz fallen oder drehe um und schwinge zurück zur Plattform. Aber das ist natürlich Mist, denn ich verschwende damit meine eigenen Energien und die von dem Fänger. Aber Sicherheit ist das Wichtigste bei dem, was wir machen. Das heißt, sobald jemand sagt „Abbruch“, tun alle das Nötige, damit die Situation sicher beendet werden kann.

Welche Rolle spielt Angst?

Wir sind uns alle bewusst, dass wir mit einer großen Gefahr umgehen, wenn wir da oben sind. Und das spürt man auch. Man lernt, die Grenzen der Angst zu verschieben, aber weg geht sie nicht. Das Risiko ist immer da und deswegen ist diese Verbindung in der Gruppe so wichtig. Ich merke das zum Beispiel, wenn wir untereinander gerade Diskussionen haben oder es eine Missstimmung gibt. Dann finde ich es wichtig, zu sagen: Kommt, das klären wir jetzt erst mal, bevor wir wieder ins Training gehen.

Was kann passieren?

Die kritischste Situation ist das Landen im Netz. Leute, die zuschauen, denken häufig: Oh, das sieht ja aus wie ein Trampolin, weil das Netz natürlich schwingt, wenn wir landen. Aber dabei unterschätzen sie die Kräfte, die da wirken. Wenn man richtig kacke im Netz landet, dann kann man sich schon schwer verletzen.

Im Interview: Moritz Haase

Der Mensch

Moritz Haase wurde vor 28 Jahren in Karlstadt, in der Nähe von Würzburg, geboren. 2010 zog er nach Berlin für seine Ausbildung an der Staatlichen Artistenschule, die er mit dem Schwerpunkt statisches Trapez absolvierte. Seit 2015 arbeitet er als freischaffender Luftakrobat, Tänzer und Artist.

Das Projekt

Seit 2022 gibt es das Gogo Home Project, das Moritz Haase gemeinsam mit seiner Schwester Katja gegründet hat. In den Sommermonaten baut die Gruppe das Flugtrapez im öffentlichen Raum auf, probt dort vor Publikum und veranstaltet jeweils zum Abschluss eine öffentliche, kostenlos besuchbare Aufführung. Im August gastiert es in Dresden im Alaunpark, wo es Ende des Monats Teil des dortigen Zirkus­theater-Festivals ist.

Das Flugtrapez

Herz des Gogo Home Projects ist ein großes Flugtrapez, unter Profis Grand Volant genannt. Vom Boden bis zum höchsten Punkt misst es rund 13 Meter, in der Länge rund 20 Meter. Auf einer Plattform starten die Flieger mit einer Trapezstange in der Hand, auf der anderen Seite werden sie von den Fängern aufgefangen, die sich in einer Art Schaukel einhaken können.

Ist Ihnen oder jemand aus Ihrer Gruppe schon mal was passiert?

Ja, vor ein paar Wochen hat sich einer unserer Fänger das Kreuzband gerissen. Das beschäftigt mich dann auch ziemlich. Wir arbeiten ja alle sehr eng zusammen und andere zu sehen, ist immer auch ein bisschen ein Spiegel dessen, was einem selbst passieren kann.

Wie lange hat es bei Ihnen gedauert, bis das erste Mal ein Fang geklappt hat?

Zwei, drei Jahre ungefähr.

Mit wie viel Training?

Das ist leider der schwierige Punkt. Wir können im Prinzip nur im Sommer trainieren. Es gibt in ganz Europa nur eine Handvoll Flugtrapeze in Hallen, wo man also unabhängig vom Wetter trainieren kann, und nicht viel mehr außerhalb. Ich bin daher lange nach Dublin gefahren zum Training, wo es eine Flugtrapez-Schule gibt – und das ging auch nicht immer, schließlich habe ich hier noch andere Produktionen und Engagements als Künstler. Dazu kommt: Jedes Flugtrapez fühlt sich anders an. Das können nur ganz minimale Abweichungen bei den Abständen oder beim Aufbau sein, es macht trotzdem für das Gefühl einen Riesenunterschied. Auch die Umgebung spielt eine Rolle: Wenn man über sich die Wolken ziehen sieht, ist das anders als in einer Halle mit künstlichem Licht – und steht ein Flugtrapez in einem Zirkuszelt, ist es noch mal etwas anderes. Sogar ein und dasselbe Flugtrapez fühlt sich anders an, wenn es nur woanders aufgebaut ist.

Bei einem Flugtrapez sind die Rollen klar verteilt: Es gibt Flieger und Fänger. Sie sind Flieger. Wie sind Sie dahin gekommen?

Ich glaube, das ist wie bei Harry Potter mit diesem Hut, den die Schüler da bei der Einschulung auf den Kopf kriegen und der entscheidet, in welches Haus sie kommen. Man ist einfach das eine oder das andere. Ich bin der jüngste von drei Geschwistern – und gefühlt haben mich meine beiden Schwestern als wir klein waren immer durchs ganze Hause getragen. Im Garten hatten wir ein kleines Gerüst aufgebaut mit einem Trapez und einem Drahtseil, damit konnte ich einfach rumprobieren. Dieses Spiel mit der Schwerkraft war schon immer spannend für mich.

Kommen Sie aus einer Artistenfamilie?

Nein, gar nicht. Aber wenn ich im Sommer auf eine Zirkusfreizeit durfte, dann war das für mich das Highlight des Jahres und irgendwie wusste ich immer: Das ist mein Ding. Aber die Frage Fliegen oder Fangen ist auch eine Typsache: Flieger sind häufig eher Freigeister und Menschen, die gerne im Mittelpunkt stehen. Im Flugtrapez performen sie den Trick, das heißt, auf ihnen liegt der Fokus des Publikums. Während die Fänger, auch wenn sie körperlich den härteren Job haben, weniger Aufmerksamkeit bekommen. Fänger sind meist Typen, zu denen man schnell Vertrauen aufbaut. Das sind Menschen, die da sind, die sich kümmern. Ich habe auch schon probiert zu fangen – und ich kriege das auch hin, wenn es mal sein muss, zum Beispiel in einer Trainingssituation. Aber richtig gut kann ich das nicht.

Artistische Arbeit in hoher Höhe Foto: PanRay Photogaphy

Körperformen spielen keine Rolle?

Ich finde, maßgeblich sind sie nicht, haben aber natürlich einen Einfluss. Wenn man ein bäriger Typ ist, kann man alleine durch die Kraft sicher einiges kompensieren. Ein Beispiel: Der Moment, in dem der Fänger den Flieger auffängt, ist optimalerweise im toten Punkt der Bewegung. Wenn also der Flieger quasi in der Luft steht und keinen Schwung in irgendeine Richtung hat – ähnlich wie der höchste Punkt, wenn man auf einer Schaukel sitzt. Wenn jetzt das Timing nicht ganz optimal ist, kann man als Fänger mit mehr Kraft auch in einem anderen Moment noch eher zupacken. Aber ich glaube: Entscheidend sind Körperformen nicht. Unsere eine Fängerin Mari zum Beispiel ist ganz zierlich und locker einen Kopf kleiner als ich. Sie fängt auch Flieger, die viel größer und schwerer sind als sie.

Im traditionellen Zirkus wird meist sehr nach Körperformen sortiert.

Das stimmt. Da gibt es immer einen riesigen breiten männlichen Fänger und kleine zierliche Flieger und den Spagat macht bestimmt eine Frau. Wir versuchen, das bewusst aufzubrechen, alle können bei uns alle Rollen ausfüllen – und tun das auch.

Wenn es nur so wenig Flugtrapez gibt – wie sind Sie dazu gekommen, eines zu kaufen und darum eine Gruppe an Ar­tis­t:in­nen zu versammeln?

Das war ein richtig langer Prozess mit vielen Zufällen. Das erste Mal, dass ich überhaupt ein Flugtrapez gesehen habe, war in Brasilien. Und das war erst nach meiner Ausbildung an der Staatlichen Artistenschule Berlin. In anderen Ländern gibt es Flugtrapeze und Schulen, um die Arbeit damit zu lernen – aber in Deutschland nicht. Und nachdem ich dann öfter zum Beispiel nach Dublin gereist bin, um zu trainieren, und mit immer mehr Menschen in Kontakt kam, die am Flugtrapez arbeiten oder sogar eine eigene Schule aufgebaut haben, kam bei mir der Gedanke auf: Eigentlich wäre es schön, auch ein Flugtrapez in Berlin zu haben, um für das Training nicht immer woanders hin fahren zu müssen. Richtig in Gang gekommen ist das alles aber erst mit der Pandemie.

Warum?

Die ganzen Auftritte, die ich sonst mache, zum Beispiel als Tänzer und Artist in Varietés, an der Oper, im Theater oder auf kleinen Bühnen – das ging auf einmal nicht mehr. Aber: Es gab in der Zeit Hilfen für Künstler, die pandemiebedingt nicht mehr auftreten konnten. Dafür musste man sich mit einem Konzept bewerben. Und weil ja viel von meinen sonstigen Engagements wegfiel, habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt, um mich in diese Antragswelt einzufuchsen und einen Antrag auf Förderung für ein Flugtrapez gestellt. Das war ja auch ein bisschen Zeitgeist in der Pandemie, Kunst draußen zu machen. Und es hat geklappt.

Kopfüber ist für einen Artisten kein Problem: Moritz Haase mit einer kleinen Turnübung im Freien Foto: Jens Gyarmaty

Was kostet so ein Flugtrapez

Das ist schwer zu sagen, denn diese Dinger gibt es nicht von der Stange. Man muss sie entweder gebraucht kaufen oder sich bauen lassen.

Was hat das von Ihnen gekostet?

Wir haben uns eines neu bauen lassen, das hat so zwischen 35.000 und 40.000 Euro gekostet.

Verdient man denn damit Geld?

Momentan finanzieren wir das Projekt noch vorwiegend durch unsere anderen Jobs. Denn ein Flugtrapez braucht immer von allem viel: viel Geld, viel Platz, viel Zeit, um es auf- und abzubauen und viele Leute, die dabei helfen und die es am Ende bespielen. Wir haben es vor zwei Jahren gekauft und jetzt im Sommer das vierte Mal aufgebaut, im Volkspark Friedrichshain in Berlin, für zwei Monate. Immerhin: Wir haben dieses Mal eine kleine Förderung vom Bezirk bekommen, um zumindest unsere Unkosten decken zu können.

Wird das immer ein Zuschussgeschäft bleiben?

Ich hoffe nicht. Und ich habe auch das Gefühl, es bewegt sich gerade was. Wir sind im August auf einem Festival in Dresden. Da bin ich die beiden vergangenen Jahre schon in anderen Shows aufgetreten, daher hatte ich den Kontakt. Dort sind wir als Truppe das erste Mal für ein Gastspiel engagiert und bekommen somit auch eine reguläre Gage gezahlt. Und ich selbst habe mittlerweile meinen ersten Vertrag für Flugtrapez-Auftritte in einem klassischen Zirkus unterschrieben, in einem Weihnachtszirkus. Das wird dann noch mal eine ganz andere Welt als beispielsweise vor dem Berghain, wo wir die letzten beiden Sommer standen. Auch wenn das tatsächlich eine sehr besondere Erfahrung war.

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Das Berghain ist ein populärer Technoclub in Berlin. Warum war das eine besondere Erfahrung?

Wir haben uns diesen Platz geteilt mit sieben Obdachlosen, die da gewohnt haben. Die waren auch schon lange vor uns da und es wurde mit der Zeit so, dass wir den kompletten Alltag mit ihnen geteilt haben. Bei unserem Trapez steht immer ein kleiner Wohnwagen, wo jemand von uns übernachtet, und so haben wir alle Hochs und Tiefs von ihnen mitbekommen und gleichzeitig auch gemerkt, wie die sich gefreut haben, dass wir da waren. Das mag ich so am Flugtrapez draußen: Es ist eine Kunstform, die kostenlos und für alle ist und damit komplett niederschwellig. Nach einer der Vorstellungen im Volkspark Friedrichshain hat mich eine ältere Frau angesprochen und gefragt, wann wir wieder da sind. Und als ich sagte, hoffentlich nächstes Jahr, hat sie geantwortet: Mal schauen, ob ich so lange überhaupt noch mache. Da musste ich schon schlucken.

Setzt der Körper in diesem Job eigentlich eine Grenze?

Ja, auf alle Fälle. Ich bin jetzt 28 und spüre jetzt schon den Unterschied zu Anfang 20.

Was ist jetzt anders?

Ich muss mir mehr Zeit für meinen Körper nehmen, zum Beispiel, um mich aufzuwärmen. Wenn ich da nachlässig bin, brauche ich hinterher mehr Zeit, um mich zu erholen. Auf der anderen Seite spielt gerade beim Flugtrapez auch der Kopf eine große Rolle. Und diese mentale Ruhe zu bekommen und das Selbstbewusstsein, das sich aus dem Wissen daraus speist, was man alles schon geschafft hat – das wird mit dem Alter besser.

Ist die Frage, wie es weitergeht mit dem Älterwerden und der Artistik eine, die Sie beschäftigt?

Nein, eigentlich nicht. Ich habe da auch keine Sorgen, denn das Schöne am Arbeiten auf der Bühne ist: Es wandelt sich ständig. Und schon jetzt mache ich ja nicht nur Trapez, sondern zum Beispiel auch Tanz und arbeite als Choreograf. Und falls es irgendwann eben nicht mehr das Trapez ist, dann eben etwas anderes.

Bei so einer öffentlichen Vorstellung schauen mehrere Hundert, vielleicht sogar Tausend Leute zu. Ist das einfacher oder schwieriger als beim Training?

Ich selbst funktioniere vor Publikum besser. Im Training mache ich eher noch mal einen Rückzieher, aber bei der Vorstellung weiß ich: Ich muss jetzt durchziehen.

Das Adrenalin?

Klar, der Adrenalinkick ist natürlich bei der Vorstellung noch mal größer, das macht auch etwas aus.

Welche Rolle spielen Social Media, wenn man so eine Performance, zumal eine öffentliche, konzipiert?

Ich bin gar nicht so der Fan von Social Media – ich war bis vor einem Jahr nicht mal auf Instagram. Mich nervt es auch eher, mich nach der Performance noch hinsetzen zu müssen, die Postproduktion zu machen und dann Videos oder Fotos hochzuladen. Aber mittlerweile sehe ich es als Gratistool, um auf unsere Arbeit aufmerksam zu machen. Neulich schrieb mir ein Kollege, der ein Festival organisiert: Ich hab euch zwar noch nie live gesehen, aber ich verfolge, was ihr auf Instagram macht und hätte euch gerne mal dabei. Das ist natürlich eine Chance.

Und was die Konzeption der Performance angeht?

Mein Anspruch als Künstler und als junger Künstler ist schon, auch Leute in meinem Alter abzuholen. Wenn ich in Varietés auftrete oder in der Oper, dann merke ich: Das Publikum hier ist einfach wahnsinnig alt. Was vermutlich auch damit zu tun hat, dass nicht alle Häuser eine ausreichende Förderung kriegen, damit sind die Eintrittpreise dort auch nicht ohne und das muss man sich erst mal leisten können. Und das Trapez ist ja eine sehr alte, traditionelle Kunstform, die wir aber modern interpretieren. Unter anderem dadurch, dass wir klassische Rollenbilder durchbrechen, aber auch durch die Auswahl von Musik oder der Kleidung, die wir tragen. Für mich kann ich sagen: Ich habe dadurch meine Begeisterung für den Zirkus noch einmal ganz neu entdeckt.

Inwiefern?

Weil ich Zirkus so inklusiv finde und wir mit unserem Flugtrapez-Projekt auch ganz viel mit dem klassischen Zirkus gemeinsam haben: Wir nutzen beide für mehrere Wochen eine öffentliche Fläche an einem Ort und interagieren auf diese Weise mit der Umgebung und den Menschen dort. Und für beide Kunstformen gilt genauso: Es ist wirklich harte Arbeit, um dorthin zu kommen, dass am Ende alles klappt. Und vor allem, dass es ganz leicht aussieht.

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