Transparency-Chefin über Fall Graichen: „Es braucht eine Integritätskultur“

Transparency International will Aufklärung in der Graichen-Affäre. Geschäftsführerin Mertens fordert bessere Strukturen im Wirtschaftsministerium.

Ein gelber Aufsteller mit dem Hinweis "Rutschgefahr" steht auf dem Boden

Achtung Rutschgefahr: Bei der Besetzung von Stellen sollten Interessenskonflikte offen gelegt werden Foto: Harald Richter/imago

taz: Frau Mertens, wie schwerwiegend sind die Vorwürfe gegen Bundes­wirtschaftsminister Robert Habeck und seinen Staatssekretär Patrick Graichen?

Anna-Maija Mertens: Mit Blick auf das Auswahlverfahren bei der Deutschen Energie-Agentur Dena sind sie schon schwerwiegend. Das Vorgehen ist schlicht nicht vereinbar mit dem kleinen Ein mal Eins, wie man Bewerbungsprozesse strukturiert, um keine Interessenskonflikte entstehen zu lassen. Wenn jemand in einen solchen Prozess involviert ist, aber einen der Bewerberinnen oder Bewerber privat kennt, reicht das oft, um sich rauszunehmen. Ich kenne das aus meinem Job und hätte gedacht, dass das in den Ministerien auch so passiert.

Leitet seit 2014 die Antikorruptions­organisation Transparency Inter­national Deutschland. Vorher war sie Direktorin des Finnland-Instituts in Berlin

Die Stelle bei der Dena soll nun neu besetzt werden. Die Opposition fordert den Rücktritt von Graichen. Welche Konsequenzen halten Sie für sinnvoll?

Es ist gut und konsequent, dass der Prozess neu aufgerollt werden soll. Das ist notwendig, aber es reicht noch nicht aus. Wir fordern eine ganz intensive Analyse des Vorgangs: Wie konnte das passieren? Diese Aufklärung sollte im Haus passieren. Aber dann muss diese interne Analyse auch transparent gemacht werden, sodass wir als Außenstehende nachvollziehen können, was passiert ist und welche Konsequenzen das Ministerium daraus zieht.

Was muss geschehen, um so etwas in der Zukunft zu vermeiden?

Es braucht eine ordentliche Inte-gritätskultur. Man muss im Haus darüber reden, wie man Interessenkonflikte versteht. Die sind ja an sich noch nichts Schlimmes. Wir alle – ob im Hauptamt oder im Ehrenamt – sind mit unterschiedlichen Interessen unterwegs, die auch kollidieren können. Gerade im beruflichen Kontext müssen diese Konflikte dann geregelt werden. Dafür braucht es gerade in herausgehobenen Stellen eine besondere Sensibilität.

Welche strukturellen Änderungen schlagen Sie vor?

Patrick Graichen hätte nicht nur selbst auf die Idee kommen müssen, sich herauszuziehen. Man braucht ­ordentliche Strukturen, etwa ein Sechs- oder Acht-Augen-Prinzip. Kollegen links und rechts hätten darauf schauen und sagen müssen: Das geht natürlich gar nicht. Je mehr Macht oder Geld im Spiel ist, desto mehr Augen braucht es.

Wie handhaben Sie das in Ihrem eigenen Haus?

Meine Kalender sind offen. Falls es mir nicht schon selbst aufgefallen ist, können mich Kolleginnen und Kollegen immer darauf hinweisen, dass mich ein weiterer Kollege lieber zu einem Termin begleiten sollte. Diese Routine sollte man so einbauen, dass sie gar nicht vergessen werden kann. Das soll auch nicht negativ konnotiert sein, dass man jemanden etwa verdächtigt. Diese Offenheit bringt im Gegenteil auch sehr viel, weil die Kollegen vielleicht noch mehr sehen und weitere Ideen haben.

Über die “Trauzeugen-Affäre“ hinaus gibt es ja noch andere enge Beziehungen, etwa zwischen Patrick Graichen und seinen Geschwistern im sogenannten Öko-Institut. Wo sehen Sie die Trennlinie zwischen legitimen Netzwerken und problematischen Seilschaften?

Die Frage ist immer: Besteht die Gefahr, dass man jemanden bevorzugen möchte? Gibt es weitere Gründe, die mich als Entscheidungsträger hindern, nur nach objektiven Kriterien einzustellen oder Gelder zu verteilen? Das betrifft die Verwandtschaftsverhältnisse der Geschwister Graichen, aber auch enge Freundschaften.

Erstmal ist es nicht verwunderlich, dass just die Grünen in diesem Bereich unterwegs sind. Sie haben das Thema “Energiewende“ vor mehr als 20 Jahren aufgegriffen und dann die Expertise entwickelt. Man muss sich die Interaktionen vielmehr genau anschauen. Es kann etwa bei Vergaben kein Ausschlusskriterium sein, dass ein Geschwisterteil in der Organisation sitzt, die den Auftrag bekommen soll, und ein anderer im Ministerium. Man muss es nur so regeln, dass diese Personen aus dem Prozess herausgenommen werden.

Wo würden Sie in Deutschland sonst noch Nachholbedarf in der Bekämpfung von Interessenskonflikten und Korruption sehen?

Interessenkonflikte können sich nicht nur bei Verwandtschaften oder engeren Beziehungen ergeben, sondern auch bei wirtschaftlichen Beteiligungen, etwa an der gleichen Firma. Der Europarat fordert von Deutschland schon länger, dass Staatssekretäre und Minister ihre Vermögensverhältnisse offenlegen müssen. So könnte man das sichtbar machen.

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