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Transitmigranten in BelgienKameras, Natodraht und Elektrotaser

Seit es über das französische Calais nicht mehr geht, versuchen Transitmigranten über Ostende nach Großbritannien zu kommen. Die belgische Hafenstadt rüstet auf.

Brach sich auf der Flucht den Arm: Transitmigrant Yacine in Ostende. Bild: Daniel Seiffert

OSTENDE taz | Elektrozäune lügen nicht. Nicht an einem Ort wie diesem, und schon gar nicht, wenn sie in sieben engen Reihen gespannt sind, die sich über dreihundert Meter Länge die Böschung der Brücke hinunterziehen. Unten fahren die Lkws vorbei auf die Fähre. Manche halten hier, wenn sie früh dran sind, noch einmal an. Die Fahrer dösen dann ein wenig, früher kontrollierten sie, ob sich nicht jemand von der Brücke heruntergelassen und zwischen Kabine und Ladefläche versteckt hatte.

Heute ist das nicht mehr nötig. Wer sollte das schaffen, mit siebenfachem Elektrozaun? Vor wenigen Monaten erst wurde er angebracht. Ein deutliches Zeichen. Ostende steht auf der Karte der klandestinen Migration.

Dreimal täglich schieben sich die Fähren vorbei an dem alten weißen Pier Richtung England in die Nordsee. Heimlich auf, in oder unter einen Lkw und auf diese Weise an Bord gelangen: darin liegt der Reiz, den das alte Seebad an der vollbetonierten belgischen Küste auf junge Transitmigranten ausübt. Der Sommer ist vorbei, schon lassen die ersten Cafés ihre Läden dicht, und so manche Bar gleicht abends einem Seniorenausflug.

Die Transitmigranten aber haben immer Saison. Oder mehr denn je. Nach Jahren, in denen sich das Geschehen vor allem in französischen Häfen abspielte, ist Ostende, eine Stadt der Rentner, Surfer und britischer Sauftouristen, zum Absprungort für blinde Passagiere geworden. Gründe dafür gibt es mehrere.

Zum Beispiel dieses Stück Papier, das Ahmed in der Hand hält. Der Ägypter, klein gewachsen und jünger aussehend als Ende 20, bekam es am Vortag von einem der Polizisten, die in seinem Versteck im Hafen eine Razzia durchführten. "Aufenthalt ohne gültige Papiere" steht darauf, und die Konsequenz lautet: "Befehl, das Grundgebiet zu verlassen". Dann folgt eine Auflistung aller EU-Staaten, denn auch hier ist Ahmed nicht mehr willkommen. Offiziell, denn eigentlich wären die belgischen Behörden schon zufrieden, wenn er sich ungesehen davonmachte.

Überfüllte Gefängnisse

Eine Nacht in Gewahrsam, ein Ausweisungsbescheid. Danach ziehen Ahmed und die anderen ihrer Wege. Die Gefängnisse in Belgien sind überfüllt, die geschlossenen Abschiebezentren ebenso. Die angrenzenden Niederlande würden ihn ein paar Monate einsperren, der Abschreckung wegen. In Frankreich hätte er es mit Behörden zu tun, die alles daran setzen, die Kanalüberquerungen von Calais und Dunkerque zu beenden, systematisch noch die notdürftigsten Behausungen zerstören, Schlafsäcke konfiszieren und gewohnheitsmäßig Tränengas versprühen. Vor einem Jahr gingen in den Straßen von Calais Geschichten um. In Belgien, hieß es, gebe es einen Hafen, von dem aus es leichter sei, nach England zu kommen. Manche wussten den Namen. Ostende.

Auch hier hat Ahmed in den letzten fünf Monaten so einiges erlebt. Essen und Medikamente nahmen die Polizisten seinen Freunden ab, sie zertraten ihre Handys oder warfen sie ins Wasser. Manchmal, wenn die Medien über die Diebstähle der "Illegalen" schrieben und man um den Strandtourismus fürchtete, saß der Schlagstock recht locker. Und nicht nur der. Ahmed ist nicht der Einzige hier, der schon Bekanntschaft mit den Elektroschocks aus einem Beamtentaser machte. Dazu kommt, dass es vor der Fähre nur zwei Kontrollen gibt, statt wie in Calais drei. Die Route über Ostende wurde populär. Und die Stadt voller.

Man merkte das schon zu der Zeit, als Ahmed, dem die Revolution in Ägypten seinen Wunsch nach "ein bisschen mehr Geld" nicht erfüllen konnte, Alexandria den Rücken kehrte. "Illegale auf den Gleisen", hieß es im Winter mehrmals in belgischen Zeitungen. Nur mit erheblicher Verspätung konnten die Züge in den Bahnhof von Ostende einfahren, weil Transitmigranten sich über das halbherzig gesicherte Eisenbahngelände Zugang zum Hafen verschafften.

Im Frühjahr kam Ahmed an, nach einem Flug nach Istanbul und einer Odyssee durch die Türkei, Griechenland, Italien und Frankreich. Zu dieser Zeit wurde die Zaunfront des Bahngeländes mit Natodraht überzogen. Doch was blieb, war die besondere Geografie Ostendes. Nah beieinander liegen die Stadt, der Hafen und der Kopfbahnhof, dessen verlassene Schuppen im Winter Unterschlupf bieten, und den nur eine Straße vom "Wäldchen" trennt. Dieser Park, weitläufig und jenseits gepflegter Seeanlagen mit reichlich Unterholz ausgestattet, ist seit jeher der Rückzugsraum der Transitmigranten. Meist spielte sich das Treiben versteckt vor den Augen der Spaziergänger ab.

Im Frühjahr wurde die Szene nicht nur öffentlicher, sondern auch größer und vielfältiger. Ahmed gehörte zu den ersten Ägyptern. Inzwischen können sie und die Tunesier zahlenmäßig mit den Algeriern mithalten, die seit Jahren von Ostende aus die Kanalpassage probieren. Im Gegensatz zu Frankreich hat Belgien kein Rücknahmeabkommen mit Algier und kann somit nicht einfach dorthin abschieben. Doch nun führen auch von außerhalb des Maghreb die Routen immer häufiger in die "Königin der Seebäder", aus Sudan und Nigeria, Somalia und Irak, ab und an sogar aus Afghanistan. Wer von dort in den letzten Jahren nach England aufbrach, versuchte sein Glück meist über Calais.

Härtere Gangart

Doch der Wind am Kanal scheint sich zu drehen, wieder einmal. Im Spätsommer kündete der Bürgermeister von Ostende eine härtere Gangart an. Um die 1.500 Transitmigranten trafen seine Beamten dieses Jahr bislang an, und darum sollen die örtliche-, die Eisenbahn- und Schifffahrtspolizei mit zusätzlichen Patrouillen pro Tag 20 Personen festnehmen. Neue Zellen müssen gebaut werden, wer verhaftet wird, soll ausnahmslos 12 oder gar 24 Stunden einsitzen. Mitte September begannen die Kontrollrunden. Die Medien berichten, dass die Quote eingehalten werde.

Johan Vande Lanotte, ehemaliger Minister und Chef des Hafens von Ostende, regte weitere Maßnahmen an. Zwei Jahre Haft für das unbefugte Betreten des Geländes, Extrakameras, Extrazäune, und auch die Immigrationsbehörde solle Beamten an den Kanal abstellen. Ostende, forderte er vor TV-Kameras, müsse der schlechteste Platz für die Überfahrt nach England werden. Auch die britische Regierung, deren Grenzpolizisten seit Jahren in Ostende die Lkw-Kontrollen verstärken, stockte vor einiger Zeit ihr Personal auf.

Im Wäldchen verlagert sich das Geschehen seither zurück ins Unterholz. Die Rückzugsräume werden knapp, abgesehen von einem Wohlfahrtszentrum, wo Transitmigranten morgens duschen können und umsonst Essen bekommen. Dazu gibt es einmal in der Woche medizinische Versorgung und Rechtsberatung. Zugang zu anderer Hilfe haben sie nicht, denn niemand käme auf die Idee, in Belgien um Asyl zu fragen.

Immerhin betritt die Polizei das Haus nicht, versichert Tine Wyns, die Direktorin. Dennoch geht die Angst um, seit die Stadt ihre neue Strategie verkündete. Die so neu nicht ist, merkt sie an, denn wer erwischt wird, bleibt auch heute schon eine Nacht in Gewahrsam. Und auch in Zukunft wird man die Transitmigranten danach wohl laufen lassen. Eine Lösung sieht anders aus, findet Tine Wyns, die in den Maßnahmen eher Muskelspiele im Rahmen der Kommunalwahlen sieht, die nächstes Jahr stattfinden.

Derweil fordert die Situation ihre Opfer. So wie Yacine, ein junger Algerier mit hagerem Gesicht, schütterem Haar und doppelt gebrochenem Arm. Neulich kam die Polizei um Mitternacht in die verfallene Bootsfabrik im Hafen, wo er schläft. Yacine wollte fliehen, stürzte in der Dunkelheit und fiel drei Meter die Treppe hinunter. An Zäune, Lkws oder Fähren braucht er vorerst nicht zu denken.

Mit einigen Bekannten steht Yacine im Hof des Wohlfahrtszentrums und diskutiert mit Ibrahim, der gestern abgeschoben wurde aus dem gelobten Land. Nach Belgien, wo er vor Jahren seine Fingerabdrücke ließ, und das nach dem Dublin-Abkommen für ihn zuständig ist. Auf der Einwanderungsbehörde sagte man ihm, er solle sich verpissen. Weil er dort Frau und Kinder hat, will er zurück nach Birmingham. Ansonsten ist er fertig mit dem Traum von England. "U.K. is rubbish" - das ist seine Bilanz. "Und das sage ich den anderen die ganze Zeit. Aber sie wollen das nicht hören."

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4 Kommentare

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  • W
    waldo

    @broxx:

    "Besser kann man es nicht sagen!"

     

    Auch dir wüsste ich es nicht besser zu sagen.

  • G
    goebi

    @ Demokrat: die Krisen der - wie du sie nennst- "Entwicklungsländer" haben zum Großteil ihre Wurzeln in der Kolonialzeit und werden durch das neoliberale Globalisierungsmodell nur noch verschärft. In beiden Fällen tragen viele europäische Länder die Hauptverantwortung. Kommentare wie deine sind daher bestenfalls als zynisch zu bewerten.

  • D
    Demokrat

    Berlgien handelt im Sinne der BürgerInnen, ich verstehe nicht was es da zu beanstanden gibt. Wie auch im restlichen Europa wollen die BelgierInnen nicht für die Krisen irgendwelcher Entwicklungsländer zahlen! Dem Volk gehört die Macht!

  • B
    broxx

    Auf der Einwanderungsbehörde sagte man ihm, er solle sich verpissen.

    Besser kann man es nicht sagen!