piwik no script img

Tragende Rollen

Seemänners Heizdeckenmassaker: „Das 7. Orchester zur See“ und Bengt Kiene sind Gegensätze, die sich anziehen

Ein knurriger Seebär, ein verkappter klassischer Pianist, ein hyperaktiver Springinsfeld und ein rassiger Jazzfreund. Kommt so etwas dabei heraus, wenn geldgierige Produzenten Popgruppen auf dem Reißbrett kreieren? Sicherlich nicht. Es muss wohl eine andere treibende Kraft dahinter gesteckt haben, damit sich Bassist Heino Sellhorn, Pianist Holger Kirleis, Allroundmusiker Jan Fritsch und Stimmgewalt Bengt Kiene zum „7. Orchester zur See“ vereinten.

Wie auch immer, sie wagten eine bizarre Kombination um dem Publikum im Jungen Theater am Mittwochabend maritime Erkenntnisse zu vermitteln und sie dabei nicht nur mit Seemannsliedern zu verzaubern. Thema des Abends sei „Seemänner und Frauen“ verkündete Seebär Heino Sellhorn zu Beginn. Wobei man jedoch beachten müsse, dass echte Matrosen nur eine Braut hätten, nämlich die See. Selbige hatte er auch mitgebracht, als gammelige, in einer Glasschüssel umherschwappende Flüssigkeit. Sie schwappte noch als Bengt Kiene von Girls, Girls, Girls sang und „Hey, big spender“ röhrte.

Jan Fritsch dagegen hatte sichtlich Spaß daran, nach langjährigen Auftritten als steifer schwarzbefrackter feiner Herr an der Seite von Mark Scheibe, so richtig den Kasper zu mimen. Er turnte auf der Bühne, erzählte mit übermäßig vielen Beats per Minute und ausholender Gestik seine Matrosenschmonzetten.

Vom Heizdeckenmassaker in Guadeloupe, vom fehlenden Gewissen der sumatranischen Talmücken und von den Pygmäen in Feuerland, die unter den Bürgersteigen leben, weil sie die einzigen seien, die da drunter passen und die Bürgersteige ja auf Stelzen stehen, weil in Feuerland alles mit Huskypisse vom Nordpol überflutet sei, und man deswegen ja auch niemals, nie und nimmer, den gelben Schnee bei den Eskimos essen dürfe. Ja, so ist das.

Die vier Musiker sind wie die Ecken eines Raumes: Sie bleiben auf Distanz, haben aber doch eine tragende Rolle, würde die Decke doch sonst einstürzen. Jeder dümpelt scheinbar in seiner eigenen Welt. Man taucht ab und zu auf, um seine Pflicht in der Gruppe zu erfüllen, den Kollegen vielleicht mit einem fetzigen aber doch eigenwilligen Trompetensolo zu unterstützen, dann aber wieder unvermeidlich die eigene Note einfließen zu lassen.

So scheint es Sinatra-Fan Kiene teils schwer zu fallen, für die herzzerreißend komischen Einlagen von Jan Fritsch das Rassel-Ei zu schütteln. Doch wenn sie alle über ihre Schatten springen – und das tun sie letztendlich doch immer wieder – dann schaukelt eine Welle gewaltiger musikalischer Gefühlsstürme über die Köpfe der Zuschauer und reißt alles mit, was sich nicht ans Stuhlbein klammert.

Susanne Polig

heute um 20.30 Uhr im Jungen Theater am Güterbahnhof. Karten ☎ 700 141

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen