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Tränen unter der Stoppuhr - Mehr Mäntel aus Frunse

■ Tag für Tag produzieren Frauen in einer kirgisischen Fabrik 4.000 Mäntel und 2.000 Hüte für den Vertrieb in ganz Zentralasien Fließbänder gibt es nicht, aber gearbeitet wird wie im Akkord / Friedhelm Wachs sah sich im Betrieb um und sprach mit einer „Heldin der Arbeit“

Frunse (taz) - Dienstag früh, kurz vor sieben. Neben der Haltestelle in der Schipokowastraße verkauft ein verschlafener Russe Melonen vor einem Käfig aus Maschendraht, Honigmelonen, groß wie Fußbälle, das Stück für nur einen halben Rubel. Lustlos sitzt der Mann auf einer kleinen Holzkiste und bringt seine Ware an die wenigen Frauen, die noch vor der Arbeit einkaufen wollen. In Moskau kosten diese Riesenfrüchte auf dem Kolchosmarkt oft mehr als zehn Rubel und auf der Straße, wo die Staatsbetriebe ihre Stände aufbauen, sind sie nicht zu bekommen. Nach den kleineren Exemplaren stehen die Moskauer gerne einmal in der Schlange. Doch hier kümmert der Drahtkäfig voll Melonen nicht die Frauen, die der moderne gelbe Bus ausspuckt. Auch Bella Beschuwa nicht. Sie eilt mit den anderen aus dem Schatten der Eichenallee auf den Fabrikeingang zu, gedankenversunken. Bella Beschuwa ist Schneiderin in der größten Mantelfabrik Kirgisiens, mitten in Frunse, und ihre Schicht beginnt Punkt sieben. Am Arbeitsplatz reden die Frauen kaum miteinander Verheißungsvoll prangt die Losung über dem Eingang zum grauen Fabrikgebäude: „Wenn wir jetzt gut arbeiten, werden wir auch gut leben!“ Die Frauen drängeln sich durch die kleine Glastür, sprechen kein Wort miteinander, weil die Zeit drängt. Das, so versichert mir später die Leiterin des Betriebes, eine stämmige und energische Frau Ende vierzig, ist nicht erst unter Gorbatschow so, das gehört zum Image dieser Firma. Ihre braunen Augen und ihre Hände kommentieren die sprudelnde Wortmasse, mit der sie statistische Daten und Firmengeschichte erzählt. Immerhin werden die Mäntel aus dieser Fabrik in ganz Zentralasien getragen, machmal sogar in Moskau verkauft. Warum hier nur Frauen– und Kinderkonfektion produziert wird, kann mir die Dame nicht erklären, es war eben schon immer so. Zur Zeit arbeiten 2.300 Schneiderinnen und Näherinnen an 35 verschiedenen Schnitten. Mäntel für die Kleinsten, bunt und mit den typisch kirgisischen Mustern versehen, die man übrigens auch in Skandinavien findet, Anoraks für die Größeren, dunkle, ernste Mäntel für die Schüler. „Tag für Tag werden in unserer Fabrik 4.000 Mäntel und 2.000 Hüte fabriziert“, erklärt stolz die Parteisekretärin des Betriebes, stockt und verbessert sich mit noch lauterer Stimme: „Also 4.500 Mäntel und 4.000 Hüte“. Der Faden reißt, da fließen die Tränen Fabriziert ist das richtige Wort. Die Hallen im ersten und zweiten Stockwerk sind gut hundert Meter lang und in jeder Etage arbeiten rund 250 Frauen, zwischen die Maschinen gepfercht. In sechs Reihen surren die Nähmaschinen, zwischen die die Frauen wie im Akkord den Stoff schieben und immer nähen sie nur ein kleines Stück vom Mantel. Neben einer jungen Frau häuft sich der Stoffberg, weil sie mit dem allgemeinen Tempo nicht mitkommt. Verbissen jagt sie den Stoff unter der Nadel durch, will schneller werden. Es scheint ihr einen Moment zu gelingen, doch dann reißt dabei der Faden. Verzweifelt schmeißt sie den Stoff hin und weint nun hemmungslos. Drei Frauen kommen zu ihr, trösten sie. Eine alte Babuschka nimmt sie in den Arm, eine andere nimmt sich einen Teil des Berges und näht ihn für die Kollegin zusammen. Der Betriebsleiterin ist es peinlich, daß die Vorführung ihres Betriebes, auf den sie sichtlich stolz ist, auch die Kehrseiten der hohen Produktionszahlen aufdeckt. Sie erklärt etwas über Stoffqualität und Stiche und Mode, um unsere Bewunderung für die Leistung des Betriebes zu wecken, doch von alldem verstehe ich viel zu wenig. Mit 24 Jahren „Helden der Arbeit“ Bella Beschuwa sitzt an ihrer Nähmaschine im dritten Stock. Blaß blickt sie auf, versucht ein Lächeln, aber es kommt zu gequält. Die Frau ist schüchtern und man sieht ihr nicht an, daß sie mit ihren 24 Jahren schon „Heldin der Arbeit“ ist. Die Planziffer von 160 bis 180 Mäntel pro Schicht hat Bella Beschuwa in den letzten acht Jahren häufig hundertfünfzigprozentig erfüllt, hat 250 Mäntelteile genäht, Tag für Tag. Dafür bekam sie wie die anderen 160 bis 180 Rubel im Monat und am Ende des Jahres eine Prämie. „Doch wichtiger als das war mir, daß ich zwei Jahre auf die Fachschule gehen durfte“, erklärt sie etwas unbeteiligt. Der Rummel, den die Parteileiterin um sie macht, ist ihr unangenehm, zumal diese autoritäre Dame sich häufig ins Gespräch mischt und Bella meine Fragen nicht beantworten kann, weil die Parteisekretärin das Wort ergreift. Deren Gesprächspartner müssen derweil warten. So erfahre ich, daß Bella Beschuwa in drei bis vier Monaten jeweils drei neue Mädchen anlernt, was auch schon die ganze Ausbildung im Betrieb ausmacht, anderen Frauen hilft und trotzdem noch über den Plan hinaus produziert. Um uns herum surren die Maschinen, und als wir hinter einem Mauervorsprung hervorkommen, um andere Teile der Fabrik zu sehen, sehen uns zwei eben noch kichernde Mädchen verstört an, werfen der Direktorin einen flüchtigen Blick der Entschuldigung zu und nähen eilig weiter. Über ihren Köpfen mahnt eine quer im Raum hängende Tafel zur Eile, neben dem langen Spruch eine Hand, die mit der Stoppuhr den neuen Rekord messen will. Zeit ist Bargeld. Fließbänder gibt es nicht, sie werden durch übergroße Servierwagen aus Drahtgeflecht ersetzt. Ab und zu kommt die Aufsicht und schiebt die Wagen zur nächsten Näherin weiter, kontrolliert zudem stichprobenartig die Arbeit. Die Frauen nehmen die Teile dann wieder vom Wagen, nähen ihr Stück und werfen die so zusammenwachsenden Mantelstücke zurück auf das weiße Drahtgeflecht, das sie an ihrem Arbeitsplatz einschließt. Nur selten sprechen die Arbeiterinnen ein Wort zusammen, zumindest, wenn sich Fremde oder jemand von der Betriebsleitung in ihrer Nähe aufhält. Daß hier eine Frau verschwindet, um einzukaufen, sich vom Friseur die Haare machen zu lassen oder gar für Theaterkarten anzustehen, wie das in Moskau noch vor einem Jahr ganz normal war und heute immer seltener möglich ist - kaum auszudenken. Dafür können die Frauen untereinander ihre Schichten auch schon mal tauschen, wenn es nötig ist. Frauen mit Kindern können die Arbeitszeit wählen Normalerweise müssen sie wöchentlich zwischen der Frühschicht von 7 Uhr bis 14.20 Uhr und der Spätschicht von 14.20 Uhr bis 22.00 Uhr pendeln. Doch wegen Kindern oder bei besonderen Anlässen ist die Betriebsleiterin flexibel. Frauen mit mehr als drei Kindern können ihre Arbeitszeit sogar völlig selbständig wählen. „Auch Heimarbeit ist dann möglich, damit uns die Frauen nicht ganz verloren gehen“, betont die Chefin. Auf dem Weg zu einem Sitzungssaal, in dem auch die Parteiversammlungen der Betriebsorganisation abgehalten werden, kommen wir an den Büros vorbei. Der Blick um die Ecke ist nicht erwünscht. Während sich die Sekretärinnen mit Formularen und mehreren Bögen Durchschlagpapier herumquälen und alte Schreibmaschinen klappern, schließt eine Frau eilig die Tür, nicht ohne selbst neugierig zu gucken, wer da den Betrieb besichtigt. Eine Näherin eilt die Treppe hoch, drängelt sich an uns vorbei zurück in den Nähsaal. Sie sieht wie viele andere Frauen blaß aus. Der bunte Kittel, den hier alle Näherinnen tragen, kann das nicht ausgleichen. Abends treffe ich Bella Beschuwa noch einmal auf dem Markt. Über den Streß und die Tränen im Betrieb sagt sie, Streß sei sicherlich in westlichen Firmen auch nicht kleiner, und am Anfang hat sie auch manchmal geweint. Es sei nur für manche Frauen besonders schwer, die sich mit der ehrgeizigen Leiterin des Betriebes nicht verstehen. Ihr selbst mache die Arbeit jedenfalls noch immer sehr viel Spaß. Trotz Betriebsleitung.

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