Toussaints neue Reflexionen über Marie: Die Honig-Katastrophe
Mit „Nackt“ schließt Jean-Philippe Toussaint seine Tetralogie über eine rätselhafte Künstlerin und Modeschöpferin namens Marie ab.
Im ersten Roman dieser „Marialogie“, mit dem Titel „Sich lieben“, hatte der Erzähler zunächst eine Phiole mit Salzsäure bei sich. Er hätte sie einsetzen können, um in das Geschehen einzugreifen. Aber er kann es nicht, er bleibt hilflos gegenüber den Handlungen im Roman, vor allem gegenüber dieser Marie.
Diese abwartende Haltung verfolgt der Erzähler auch im neuen Roman. Er klettert auf ein Museumsdach und beobachtet unter waghalsigen Umständen von dort oben, wie sich eine gewisse Marie auf einer Cocktailparty bewegt. Wie ein galanter Geschäftsmann mit ihr flirtet, wie dieser merkt, dass er sich in der Adresse geirrt hat. Dann ahnt auch der Erzähler, das ist gar nicht seine Marie.
Schließlich tritt die richtige Marie auf. Aber der Erzähler kommt nicht an sie heran. Sie, Marie hält die Fäden in der Hand. Er, der Erzähler, ist machtlos. Er kann nur beobachten.
Er hofft nur, dass Marie endlich aufmerksam auf ihn wird, sich ihm hingibt. Er verharrt in einer Wartestellung.
Jean-Philippe Toussaint: „Nackt“. Übs. Joachim Unseld. Frankfurter Verlagsanstalt (FVA), 2014, 157 Seiten, 19,90 Euro.
Der Romancier als teilnehmender Beobachter
So sieht die Situation des liebenden Erzählers im Roman „Nackt“ aus, aber es ist zugleich eine Reflexion über den Romancier Toussaint und den Romancier an sich. Der Romanschriftsteller ist nur ein „teilnehmender Beobachter“. Er will sich nicht einmischen, womöglich politisch werden. Wenn sich Toussaint dann doch politisch äußert, tut er es als Privatperson, als Bürger, wie jeder andere auch, nicht als Autor.
Er hat selbst Politikwissenschaften studiert, aber für sich als Autor nimmt er die absolute Freiheit der Kunst in Anspruch, die sich keinen fremden Sachzwängen unterwirft. Im Roman pflegt er die indirekte Sprechweise, die Andeutung.
Der Romanerzähler darf nichts forcieren; er muss geduldig sein, warten, bis seine Personen aufscheinen, auf ihn zukommen, wirklich werden. Bevor die eine, die Richtige, erscheint, kommt es zu Unschärfen, Verwechslungen, verwischten Identitäten. Toussaint beschreibt also nie genau die Person von Marie. Selbst nach vier Romanen weiß man nicht exakt, wie sie aussieht, welche Größe, welche Augenfarbe.
Der Autor lässt bewusst Lücken, die die Phantasie des Lesers ausfüllen muss. Ihr Charakter leitet sich aus ihren Gesten ab. Als Modeschöpferin ist sie ständig in Japan. Sie liebt die Andeutungen, die Leerstellen, den Minimalismus, wie der Autor Toussaint, der sich oft in Asien aufhält.
Der Bienenschwarm auf dem Laufsteg
Marie beherrscht aber auch den éclat. Der Roman beginnt mit einer Szene, die zugleich den Titel erklärt. Ein Model trägt ein sogenanntes Honigkleid. Es haftet auf dem Körper des Mannequins. Es besteht nur aus Bernstein und Licht. Das Model ist also fast nackt. Für den Schaulauf in der Herbst-Winter-Kollektion in Tokio folgt dem Modell ein Bienenschwarm. Zur Verdeutlichung des Namens und der Machart dieses Honigkleids.
Am Ende des Laufstegs kommt es zu einem Zwischenfall. Das Mannequin zögert, dreht sich auf die falsche Seite, die Bienen verstechen es. Marie tritt auf die Bühne. Sie tut so, als sei das die Vollendung des Programms. Und es gelingt ihr auf eine natürliche und selbstverständliche Weise.
Marie mag dem Leser als unnahbar und spröde erscheinen. In den Augen des Erzählers ist sie eine Heilige, fast wie eine, klar, wie eine Jungfrau Maria.
An einer Stelle gibt der Autor dann doch einen konkreteren Hinweis. Er vergleicht sie mit der Maria auf dem Bild „Die Verkündigung“ von Botticelli, das in den Uffizien in Florenz hängt.
Wie ein Bild von Botticelli
Durch den Vergleich gewinnt sie dann doch noch Konturen: zierlich, blonde Haare wie Meerschaum gewellt, blaue Augen: So könnte Marie aussehen, wie Odette im Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Toussaint kehrt das Verfahren von Proust um. Swann hat zuerst das Bild von Botticelli im Kopf. Er verliebt sich erst in Odette, als er wahrnimmt, dass sie einer Kunstfigur von Botticelli ähnelt.
Swann wird eifersüchtig, aber am Ende wendet er sich enttäuscht von Odette ab. Sie ist nicht „sein Genre“. Sein Genre ist die Liebe zur Kunst. Die Kunst steht höher als das Leben. Toussaints Erzähler gelangt erst gegen Ende der Tetralogie zu dem Schluss: Seine Marie ähnelt der Maria von Botticelli.
Aber Toussaint bewertet die Kunst nicht höher als das Leben. Seine Marie wird durch den Vergleich mit Botticelli lebendiger. Kunst und Leben gehen nahtlos ineinander über.
Und dann kommt auch noch eine weitere Charakterisierung von Botticellis Maria: sie nimmt eine grundsätzliche Zurückhaltung ein. Von Akzeptanz und Verweigerung, „als ob Botticelli nicht eine Verkündigung, sondern ein NOLI ME TANGERE gemalt hätte“.
Klare Sprache und prägnante Form
Rühr mich nicht an, denn ich bin zerbrechlich und deshalb ungenießbar, scheint Marie auszustrahlen. Am Ende aber verliert Marie diese Berührungsangst. Durch welche Erkenntnis, soll hier nicht verraten werden.
Toussaint verwischt in diesem Roman „Nackt“ die Identitätsgrenzen von Figuren. Er überlagert Orts- und Zeitebenen zwischen Paris, Tokio und der Insel Elba. Und das in einer klaren Sprache und prägnanten Form, wie immer bei ihm auf etwa 160 Seiten. Eine Form, die sich anschmiegt an seine Hauptfigur Marie.
Sie umkreist, sie erst am Ende der Tetralogie aufscheinen und näher herantreten lässt. Die Modeschöpferin Marie will eine couture ohne couture, eine Nähkunst ohne Naht erzielen. Das erreicht auch die Romankunst von Toussaint.
„Nackt“ lesen heißt, sich von Wellen des Meeres tragen lassen, sich den Wogen, dem Vagen hingeben.
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