Touristenhorden in Berlin: Hauptsache Saufen
Bei „Pub Crawls“ machen Stadtführer Gruppen von Berlin-Besuchern möglichst schnell betrunken. Den Gästen macht’s Spaß, viele Anwohner sind sauer.
Kurz vor Mitternacht findet der erste und einzige Kontakt mit dem „echten“ Berlin statt. Während Tour-Guide Dave seinen lautstarken Kunden auf der Simon-Dach-Straße ein nach Sprit und Traubenzucker schmeckendes Wodka-Gemisch verordnet, beugt sich eine ältere Dame aus einem Fenster im zweiten Stock. Ihre Beschwerden über den Lärm stoßen bei der Horde auf wenig Verständnis. „Fuck off“, ruft ihr einer entgegen. Dann zieht die Gruppe von etwa zwei Dutzend jungen Menschen weiter.
„Pub Crawls“ sind bei einer bestimmten Art von Berlin-Besuchern äußerst beliebt: Bei diesen Veranstaltungen – „to crawl“ bedeutet kriechen, krabbeln – ziehen meist junge Touristen unter der Leitung von Stadtführern während einer Nacht durch mehrere Kneipen. In den Lokalen und auf dem Weg dorthin betrinken sie sich, zum Abschluss stolpern sie in einen Nachtclub.
Das betreute Trinken bieten inzwischen verschiedene Veranstalter an jedem Abend der Woche an. Sie versprechen: die szenigsten Bars, die angesagtesten Clubs. Sie liefern: Bars, in die sich kaum ein Einheimischer verirrt, und Clubs, die nicht besser sind als der durchschnittliche Kleinstadtschuppen. Die meisten Crawls, deren Gruppengröße bis zu 60 Leute umfassen kann, ziehen durch touristisch „angesagte“ Ausgehviertel wie den Simon-Dach-Kiez in Friedrichshain oder die Spandauer Vorstadt um den Hackeschen Markt.
Dieser besagte Abend beginnt um halb elf in einer Bar in der Grünberger Straße. An der Markise hängt ein Schild: „Pub Crawl“. Darunter versammeln sich US-Amerikaner, Australier, Kanadier, Spanier, Deutsche. Es sind fast ausschließlich Männer, fast alle sind auf Europa-Trip, viele nur für wenige Nächte hier.
Einer von ihnen ist Bronson, Australier, 20 Jahre alt. Auf Berlin hat er sich besonders gefreut: „Andere Reisende haben mir erzählt, dass man hier total durchdrehen kann.“ Ihm gegenüber sitzen zwei Kanadier. In Amsterdam haben sie bereits einen Pub Crawl überstanden. Ihr nächstes Ziel: Prag. Auch dort heißt der Plan: „Pub Crawl, definitely!“
Das Saufen gehöre eben dazu, finden sie. Nur wenige scheinen sich im Klaren darüber zu sein, dass sie das Feindbild vieler Berliner sind. Ein Teilnehmer wohnt seit drei Jahren hier. Und kommt trotzdem immer wieder gern zur Trinkertour. Um neue Leute kennenzulernen, sagt er.
Immer mehr junge Leute versammeln sich unter der Markise, trinken Bier und süßliche Gratis-Shots aus neonfarbenen Reagenzgläsern. Dann schultert Dave den Rucksack mit den Schnapsflaschen und ruft zum Aufbruch: „Everyone ready to get drunk?“ – „Yeah!“ – „Good.“
Der nächste Pub ist keine 250 Meter entfernt. Vor der Ankunft der Gruppe saßen dort nur wenige Leute. Jetzt ist der Laden voll. Longdrinks, Bier und wieder Gratis-Shots. Nach einer halben Stunde will Dave weiterziehen. Die Teilnehmer trinken den Rest ihres Getränks auf ex. Dave packt das Wodka-Gemisch aus dem Ruckack. „This stuff is gonna make you wasted!“ Aufbruch zur nächsten Station in Richtung Vollrausch. Wo eben noch mehr als 20 lärmende Touristen waren, herrscht wieder gähnende Leere.
Erst Geheimtipp im Reiseführer, dann pleite
Das Geschäftsmodell klingt attraktiv für Barbetreiber: Pub Crawls versprechen regelmäßigen Besuch von durstigen und liquiden Kunden. Doch für so manchen waren sie der Anfang vom Ende. „Immer wenn die Pub Crawls die Bar verlassen hatten, lag hier alles in Schutt und Asche“, sagt der Betreiber einer Friedrichshainer Kneipe etwas abseits des Touristen-Hotspots Simon-Dach-Kiez. Sein Vorgänger musste schließen – auch, weil keine Stammgäste mehr kamen. Die Bar war zum „Geheimtipp“ in Reiseführern geworden, das hatte sie ruiniert. „Man verkauft billigen Alkohol an die Gruppen, da sind die Gewinnmargen groß“, erklärt der jetzige Besitzer. Doch die Großgruppen lärmen, hinterlassen nicht selten Toiletten voller Erbrochenem. „Deine Nachbarn hassen dich. Deine Stammgäste hassen dich.“
Dieses Problem haben die Bars im Simon-Dach-Kiez nicht mehr. Zehn Jahre Easy-Jetset haben dort das Straßenbild geformt. Auf Stammgäste sind die Betriebe dort offensichtlich nicht angewiesen.
Inzwischen ist es halb zwei, auch in der dritten Bar gab es einige schnelle Drinks: Bronson trainiert seine deutschen Anmachsprüche für den Club, Dave sammelt seine betrunkenen Schützlinge ein. Es ist ein entspannter Abend für ihn. Manchmal sind die Gruppen mehr als doppelt so groß. So aber hat der Waliser, der in Berlin als Grafikdesigner arbeiten möchte und sich bislang mehrmals pro Woche als schlecht bezahlter Stadtführer verdingt, wenig Mühe. Er wedelt mit der Taschenlampe, die alkoholisierte Meute torkelt treuherzig hinterher. Es geht zur Endstation: Matrix, eine gesichtslose Massendiskothek unter dem U-Bahnhof Warschauer Straße.
„Ich gehe lieber anderswo feiern“, sagt Dave lachend. Er weiß, dass er den Gruppen nur einen Abklatsch des Berliner Nachtlebens zeigt. Manche seiner Kunden ahnen das wohl auch. Die meisten aber wollen es gar nicht wissen.
Dieser Text ist Teil des Wochenendschwerpunkts in der taz.Berlin. Darin außerdem: Eine Analyse, wie nachhaltiger Tourismus aussehen kann und ein Blick ins touristengeplagte Barcelona. In Ihrem Briefkasten und am Kiosk.
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