Toter Geflüchteter in Gefängnis Kleve: Suizid bleibt reine Spekulation
Es gibt Zweifel am Gutachten, das die NRW-Regierung im Fall Amad Ahmad entlastet. Der Gutachter spricht von „halb-subjektiven“ Einschätzungen.
Nun aber erklärte Schweers, seine Aussagen zur Dauer des Feuers oder der Frage, wie lange der Brand durch ein geöffnetes Fenster zusätzlich angeheizt wurde, beruhten auf „halb-subjektiven Einschätzungen aus der Ermittlungsakte“. Auch die Frage, ob technisch abklärbar sei, dass der Tod des aus Syrien stammenden Kurden Amad Ahmads tatsächlich ein Suizid war, musste der 53-jährige Gutachter verneinen: „selbstverständlich nicht.“
Zwar gehen auch die von den Eltern Amad Ahmads beauftragten Anwälte „mangels anderer Anhaltspunkte“ davon aus, dass der aus Syrien Geflohene das Feuer in seiner Zelle am 17. September 2018 selbst entzündet hat. Allerdings könnte dies auch ein verzweifelter Hilferuf gewesen sein: Mehr als zwei Monate saß der 26-Jährige da schon ohne jede Rechtsgrundlage in Haft.
Erst einen Tag vor seinem Tod am 29. September 2018 räumte die Staatsanwaltschaft Kleve ein, dass Amad Ahmad Opfer einer kaum zu glaubenden Verwechselung geworden sein soll: Informationen aus den Polizeidatenbanken Inpol und Viva waren vermischt worden.
Die Zweifel bleiben
Weil der als „hellhäutig“ beschriebene Kurde deshalb mit dem aus Mali stammenden „schwarzhäutigen“ Amedy G. verwechselt wurde, soll ein gegen den Malier vorliegender Haftbefehl gegen Amad Ahmad angewendet worden sein. Fotos, aus denen die Verwechselung wegen der unterschiedlichen Hautfarbe direkt klar wird, verglich niemand.
Der Tod Amad Ahmads, dessen Haut zu 38 Prozent verbrannt war und der nach einer Lungentransplantation im Bochumer Klinikum Bergmannsheil an „Multiorganversagen nach Verbrennungskrankheit“ starb, wurde damit zum Skandal, der zwei Minister des nordrhein-westfälischen CDU-Ministerpräsidenten Armin Laschet gefährdete: Innenminister Herbert Reul und Justizminister Peter Biesenbach, beide ebenfalls Christdemokraten, mussten schwere Fehler einräumen, gerieten massiv unter Druck.
Für Entlastung sorgte erst die Suizidthese des Brandsachverständigen Schweers, die Biesenbachs Ministerium im November 2018 präsentierte – und die den Tod des Geflüchteten als eine Art unvermeidbaren Unfall darstellte.
Doch an der Belastbarkeit des Schweers-Gutachtens bleiben nach der Sitzung des Untersuchungsausschusses Zweifel. Vor dem Ausschuss bekräftigte der Geschäftsführer des Instituts für Brand- und Löschforschung Korbinian Pasedag Vorwürfe, die er bereits vor mehr als zwei Jahren in den vom WDR produzierten Fernsehmagazinen Monitor und Westpol erhoben hat.
Selbst der Fernseher war geschmolzen
Der von Schweers geschilderte Brandablauf, nach dem Amad Ahmad etwa 15 Minuten in der nur 9,15 Quadratmeter großen brennenden Zelle ausgeharrt und erst danach das Fenster geöffnet und um Hilfe gerufen haben soll, sei technisch unmöglich. Ohne Luftzufuhr von außen „war schon nicht genug Sauerstoff im Raum, um nur die Matratze abzubrennen“, sagte Pasedag.
Zerstört wurden aber große Teile des Mobiliars des Haftraums – nach dem Schweers-Gutachten, das der taz vorliegt, verbrannte zusätzlich etwa eine als Bettunterlage dienende Sperrholzplatte. Selbst der Fernseher war danach „verschmolzen und zertropft“. Reine Spekulation sei auch die Suizidthese, erklärte vor dem Untersuchungsausschuss der Brandsachverständige Henry Portz: „Ob eine Selbstmordabsicht vorgelegen hat, kann der Brandgutachter nicht wissen.“
Unsicher bleibt damit, wann genau Amad Ahmad erstmals um Hilfe gerufen hat – und wie schnell die Mitarbeiter:innen der Justizvollzugsanstalt reagiert haben. Der Untersuchungsausschuss setzt seine Arbeit mit der Befragung von Mitgefangenen, die den zu Unrecht Inhaftierten nach Hilfe schreiend am Zellenfenster gesehen haben wollen, am Mittwoch fort.
Klar sei aber, dass das „offizielle Brandgutachten durchaus Lücken“ aufweise und Ursachen jenseits der Suizidthese ausblende, kritisiert deshalb nicht nur der Obmann der Grünen im Untersuchungsausschuss, Stefan Engstfeld. „Auf die Frage, warum Amad Ahmad das Feuer legte, gab es viel zu früh eine passende Antwort der Landesregierung – nämlich vorsätzliche Brandstiftung mit suizidaler Absicht“, sagt auch SPD-Frakionsvize Sven Wolf.
Überfällig sei besonders die Installation von Notrufknöpfen in allen Hafträumen, sagt Wolf: „Das kann Leben retten.“ Denn bis heute gibt es in Nordrhein-Westfalens Gefängnissen nur Gegensprechanlagen, die nicht deutlich machen, ob sich Inhaftierte in einer existenziellen Notlage befinden. Beim Brand von Amad Ahmads Zelle war die Gegensprechanlage durch einen anderen Gefangenen belegt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos