: Tote belauern die Lebenden
■ Antworten der Kunst auf den Holocaust. Die Ausstellung "Nach Auschwitz" in Potsdam
Ein alter Mann, das traurige Gesicht seitwärts gewandt, balanciert Babyschuhe auf seinem Kopf. Auf einem anderem Bild der dunklen Porträtserie „Eltern“ von Susanna Pieratzki wendet er – im gestreiften Pyjama – dem Betrachter den Rücken zu; leere Kleiderbügel pendeln über seiner Schulter. Mit den Schuhen verweise er, so erfährt man in einem Faltblatt, auf die Geburt der Tochter Susanna 1965, die sich dreißig Jahre später in diesen rätselhaften Bildern mit den Erinnerungen ihrer Eltern, Überlebenden des Holocaust, auseinandersetzt. Die leeren Kleiderbügel werden zum Symbol für die ermordeten Geschwister des Vaters.
Wenn man dies nun nicht erklärt bekomme, überlegt eine Besucherin der Ausstellung „Nach Auschwitz“, sehe man dann nicht bloß unverständliche Verrücktheiten? Doch gerade um diesen Zweifel an der Bedeutung der Dinge geht es: Wenn wir auch nicht wissen, was Badekappe und Rose für Paretzkis Mutter bedeuten, so ahnen wir doch, daß jedes Ding seine Harmlosigkeit eingebüßt hat. Nicht zu wissen, mit welcher alltäglichen Bemerkung man schmerzhafte Erinnerungen berührt, kennzeichnet die Befangenheit gegenüber den Überlebenden und markiert ihre Einsamkeit. Das erzählen Paretzkis „Eltern“.
Mit der doppelten Frage von Elie Wiesel – „Wie ist es möglich, darüber zu reden? Wie ist es möglich, darüber nicht zu reden?“ – hat Monica Bohm-Duchem, Kuratorin aus England, die Ausstellung überschrieben. Eingegangen ist in die Kunst „Nach Auschwitz“ die lange Zeit des „Nicht-darüber-Redens“ und hat Verschiebung und Verrückung von Bedeutung hervorgebracht.
Als ein Aufflackern der Erinnerung am falschen Ort erscheinen zunächst die Architekturzeichnungen von Melvin Charney (Kanada): Ein Palisadenzaun mit Wachturm verbindet moderne Wohnzeilen, Schornsteine kennzeichnen Idealstädte. Charney visualisiert ein Sehen, das Funktionalität und Sachlichkeit nicht mehr aus dem Schatten der Rationalität in der Organisation der Todeslager befreien kann. Da wird der Holocaust zum grausigen Horizont, vor dem man das Projekt „Moderne“ neu entziffern muß.
Die Reaktion auf den Holocaust in der Kunst ist also nicht nur eine Frage des expliziten Bezugs auf die Vergangenheit. Dennoch stellen die meisten der von Bohm- Duchem ausgesuchten neunzehn Künstler eindeutig lesbare Verweise her. In Fabio Mauris „Klagemauer“ (1993) aus alten Koffern haben die Kleiderberge aus Konzentrationslagern und Bilder von heutigen Flüchtlingen Eingang gefunden. Die zusammengerollten Leinwände, die wie Säulen zwischen den Koffern klemmen, lassen an eingemauerte Schriftrollen ebenso denken wie an nicht malbare Bilder. Diese Balance zwischen Bild, Bildverbot und Versagen der Darstellungskraft ist auch in den vagen Porträtfotos von Boltanskis Installation „Altar to the Chajes High School“ präsent.
Schon im Foyer des Alten Rathauses Potsdam steht man Shirley Shambergs Installation gegenüber, in der schwarz verhüllte Bahren zur Chiffre für einen Tod werden, der dem Einzelnen mit dem Leben zugleich seine Individualität nahm. Ähnlich thematisieren die Anonymisierung im Massenmord die leeren Körperhüllen von Magdalena Abakanowicz und die ausgemergelten Körper, die Natan Nuchi in eine schwarze Leere malt. Doch je weiter sich diese Formulierungen dem Gefühl von Trauer und Verlust öffnen, desto vager wird ihr Bezug zur Historie. In der Konstruktion der Betroffenheit gelingt ihnen nicht, jene doppelbödige Autorenrolle anzunehmen, mit der zum Beispiel Boltanski Fiktion und Projektion der Geschichte an den Betrachter zurückgibt.
Am gefährlichsten nähert sich die russische Künstlerin Lena Liv einer Rührung, die jede Differenzierung verwischt. Mit sepiabraunen Kinderfotos und kopflosen Schaukelpferden stilisiert sie den Topos von der verlorenen Kindheit. Da wird der Kontext „Holocaust“ zu einem vermessenen Anspruch. Zu den Künstlern, die selbst ein Lager überlebt haben, gehört Zoran Music, 1909 in Slowenien geboren. Wie auch Daisy Brand und die Malerin Kitty Klaidmann konnte er seine Zeugenschaft erst Jahrzehnte später in Bildern umsetzen. 1970 griff er auf Zeichnungen zurück, die vor den Leichenbergen in Dachau entstanden waren. Unter dem Titel „We Are not the Last“ kriecht in die Ermordeten dort eine heimliche Energie, mit der sie die Lebenden belauern. So findet die Unmöglichkeit, die Vergangenheit abzuschließen, ihren Ausdruck in ruhelosen Toten.
Die jüngeren Künstler versuchen, das Nichterlebte aus der Distanz zu holen. Zu ihnen gehört die Malerin Sally Heywood aus Liverpool. 1990 begann sie in Berlin, den Wiederaufbau der Synagoge zu zeichnen. Diesen dokumentarischen Blättern stellt sie in eruptiven Farbkrusten die Vorstellung von der Katastrophe, vom Brand gegenüber. Heywood brachte die Ausstellung „Nach Auschwitz“, die schon in London, Manchester und Edinburgh zu sehen war, mit Unterstützung des brandenburgischen Ministeriums für Kultur nach Potsdam. Eigentlich habe Amnon Barzel die Ausstellung in das Jüdische Museum Berlin einladen wollen, jedoch keine Mittel vom Senat bewilligt bekommen, erzählt sie. So bleibt Potsdam wohl die einzige deutsche Station der Tournee, die in Israel und den USA fortgesetzt wird. Katrin Bettina Müller
„Nach Auschwitz“. Bis 10. März, täglich 10 bis 18 Uhr, Potsdam, Altes Rathaus, Am Alten Markt
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