Tories wählen neuen Parteivorsitzenden: Das Rennen um die Johnson-Nachfolge
Großbritanniens regierende Konservative entscheiden, wer der oder die nächste Premierminister:in wird.
V or dem Konferenzzentrum werden Flugblätter verteilt. „Liz for Leader“ steht auf einem, auf dem anderen „Ready for Rishi“. Wer es in den Konferenzsaal geschafft hat, kann dort Teetassen oder T-Shirts mit Sunak- oder Truss-Aufdruck für je 15 Pfund kaufen. Die Schilder zur Unterstützung von Liz Truss oder Rishi Sunak gibt es gratis. Die Sitzreihen im Saal, achteckig um eine Bühne in der Mitte aufgebaut, erinnern an die Boxkämpfe, die hier manchmal ausgetragen werden. Im Konferenzzentrum geht es an diesem Abend um einen nicht minder harten Kampf: den Wettstreit zwischen Exfinanzminister Rishi Sunak und Außenministerin Liz Truss um die Nachfolge Boris Johnsons als Chef der britischen Konservativen und Premierminister – oder Premierministerin – des Vereinigten Königreichs.
Es geht dabei nicht um einen Politikwechsel. Es geht um die Frage, wer das Programm von Boris Johnson am besten weiterführt: Ist es Sunak, der während der Coronapandemie als Finanzminister an der Spitze der Beliebtheitsskala stand, weil er das Land mit Kurzarbeitergeld und Unternehmensbeihilfen durchfütterte? Oder ist es Liz Truss, die schon unter drei verschiedenen Premierministern im Kabinett saß und einst für den Verbleib in der EU war, aber nun als Außenministerin die Hardlinerin gibt und zum Liebling der Brexit-Anhänger:innen geworden ist?
Leeds ist eine traditionell von Labour dominierte Stadt in Yorkshire. Im industriellen Herzen des einstigen britischen Kohle- und Stahlimperiums. Heute nennt man diese Regionen „left behind“, abgehängt und vergessen, mit hoher Arbeitslosigkeit und sozialen Problemen. Leeds als größter Stadt geht es noch einigermaßen gut, und nur einer der sechs Abgeordneten ist konservativ. Doch nicht weit von hier gibt es viele ärmere Wahlkreise, die im Jahr 2019 für politischen Wirbel sorgten, als Boris Johnson sie erstmals für die Konservativen holte. Johnson versprach den Menschen hier den Brexit und damit Investitionen, die den Norden wieder aufbauen sollten. Wären Sunak und Truss vor Ort eine wählbare Alternative zu Johnson?
Um solche Fragen geht es in diesen Wochen nicht nur in Leeds. Die beiden Bewerber:innen, die von der konservativen Parlamentsfraktion in die Stichwahl geschickt wurden, tingeln durch das ganze Land für ihren Wahlkampf. Das Format ist immer gleich: Ein Journalist oder eine Journalistin moderieren, Truss und Sunak werden vorgestellt, es gibt für jeden ein kurzes Video und ein wenig Redezeit, gefolgt von Fragen aus dem Publikum.
Leeds ist Truss’ Heimatstadt. Aber Sunak hat in Yorkshire seinen Wahlkreis. Wer erhält hier am meisten Zuspruch? Mark Shelmerdine, ein 55-jähriger Bankkaufmann, ist sich vor der Veranstaltung sicher: „Sunak kommt für mich direkter rüber.“ Das sehen Lesley und Glynn Hutchinson, mit 73 und 72 Jahren beide in Rente, anders: „Sunak trägt die Mitschuld am Fall Johnsons.“ Deshalb käme nur Truss in Frage.
Außenministerin Truss vs. Ex-Finanzminister Sunak
Kein Geringerer als der ehemalige Brexitminister David Davis, der im Parlament Boris Johnson zum Rücktritt aufforderte, kündigt Sunak an. Davis, der hier die Anerkennung als wahrer Brexit-Befürworter genießt, beschreibt Sunak als wahren Brexiteer, der dem Land während der Pandemie zur Seite stand.
Sunak beginnt seinen Auftritt mit Anekdoten aus seinem Leben. „Ich komme aus einer Einwander:innenfamilie, die sich für ihre Kinder aufopferte“, berichtet er und bezeichnet das als „wahre konservative Werte“. Sein Auftreten im maßgeschneiderten Anzug ist selbstsicher und redegewandt, jedoch nie überheblich. Und doch fehlt eine Dosis mitreißender Emotionen. Am eindringlichsten ist seine Warnung vor neuen Schulden, etwa durch die Steuersenkungen, die seine Kontrahentin verspricht: „Wir dürfen nichts machen, was später die Zukunft unserer Kinder belastet, sondern müssen Großbritannien besser machen!“ Damit erntet der ehemalige Finanzminister seinen ersten Applaus.
James Cleverly, derzeit Bildungsminister, stellt anschließend Truss vor. Er bekräftigt ihren harten Arbeitseinsatz. Sie verspreche Niedrigsteuern und sei in der Lage, sich gegen Russland zu stellen. „Truss liefert, was sie verspricht“, bekräftigt er. Truss erhält ihren ersten Beifall, als sie ein besseres, die großen Städte im Norden verbindendes Bahnnetz und ein Straßenbahnnetz für Leeds verlangt. Gleich noch mal Applaus erntet sie, als sie behauptet, dass „die Menschen in Yorkshire wüssten, wer eine Frau ist“ – ein Wink in der sehr polarisierten britischen Transdebatte.
Truss wirkt weniger geschniegelt als Sunak und scheint kämpferisch. Das kommt an. In der Pause erzählen Jacob Sutter, 18, und Jayson Hughes, 19, aus Sheffield, der taz, dass sie von Liz begeistert sind. „Sunak redet nur über die Wirtschaft, Truss spricht alle möglichen Themen an“, finden sie.
Nach der Pause konzentriert sich Sunak auf die Steuer- und Wirtschaftspolitik. Doch das Publikum will von ihm nur eines wissen: Hat er Boris Johnson den Dolchstoß versetzt? Sunak gilt als derjenige, der durch seinen Rücktritt als Finanzminister die Lawine von Rücktritten ins Rollen brachte, die Boris Johnson schließlich zum eigenen Abdanken zwang. In seiner Antwort geht Sunak aber nicht auf Partygate und das Verhalten Johnsons ein. Als Grund seines Rücktritts nennt er einzig Differenzen über die Wirtschaftspolitik.
Wahlkampfthema: Schulzeit von Liz Truss
Truss wird in dieser zweiten Veranstaltungshälfte über ihre Schulzeit befragt. Denn über ihre Schule in Roundhay in Leeds hatte sie gesagt, dass man dort mehr über Sex und Rassismus gesprochen habe, als den Kindern das Grundsätzliche, „wie Lesen und Schreiben“, zu vermitteln. Das führte zu Empörung vor allem über Labour in Leeds. Truss wiederholt nun ihre Kritik, dass die Erwartungen an Kinder aus ärmeren Gegenden in Roundhay niedriger gewesen seien als für andere.
Truss’ alte Schule liegt in einer Wohngegend mit großen Häusern mit professionell gepflegten Gärten, neben Tennis- und Cricketsportplätzen. Die Schule selbst ist auf einem großflächigen Gelände. Alle Befragten geben an, dass es in dieser Gegend keine Probleme gebe und die Schule immer gut gewesen sei. An einer Haustür öffnet die 79-jährige Jean Pengelly die Tür. Pengelly erzählt, dass sie selbst Lehrerin war, allerdings in einer anderen Schule, und dass all ihre nun erwachsenen Kinder in die Schule von Truss gingen, und zwar zur selben Zeit wie sie. „Liz Truss spricht die Schule und die Gegend herunter, damit es in ihr politisches Konzept passt“, schimpft sie. Dann stellt sich heraus, dass ihr Sohn Martin – er ist 48, ein Jahr älter als Truss – heute leitender USA-Redakteur beim Guardian ist. „Mein Sohn war so außer sich, dass man ihn bat, etwas dazu zu schreiben.“ In seinem Kommentar zitiert er Mitschüler:innen, die Truss’ Darstellung der Schule nicht akzeptieren. „Ich bin nicht konservativ, aber wenn ich es wäre, würde ich spätestens nach diesen Aussagen nicht mehr für Truss stimmen. Ich sehe eine Frau, die alles tut, um sich den Posten der Premierministerin zu krallen.“
Es gibt aber auch Stimmen, die Truss’ Darstellung stützen. Der CNN-Redakteur Richard Quest besuchte nahezu zwölf Jahre vor Truss dieselbe Schule. Laut Quest hatte die Schule damals in den 1970er Jahren tatsächlich Probleme und viele, auch er, schafften keinen Schulabschluss, erinnert er sich in der Sunday Times.Wovon man weder bei Truss noch bei ihren Kritiker:innen ein Wort hört: Die verbreitete Vernachlässigung von benachteiligten Schüler:innen in Großbritannien unter den Konservativen nahm aufgrund der Bildungspolitik Tony Blairs ein Ende, der als Labour-Premierminister ab 1997 national vergleichbare Standards einführte.
Acht Tage nach Leeds treffen Truss und Sunak in einem völlig anderen politischen Terrain wieder aufeinander. Das südenglische Eastbourne gilt als nationales Altersheim. Es ist konservativ im gesellschaftlichen Sinne, Labour spielt hier kaum eine Rolle als Konkurrenz für die Konservativen. Sie müssen eher die Liberaldemokraten fürchten. Auch Eastbourne selbst war innerhalb der letzten zwölf Jahre zweimal liberaldemokratisch. Die Mitglieder der Konservativen, die sich an diesem Abend zur Veranstaltung anstellen, scheinen durchschnittlich zehn Jahre älter zu sein als jene in Leeds, und größtenteils weiß-englisch und wohlhabend. Obwohl auch hier die meisten Regionen für den Brexit stimmten, gab es zahlreiche Ausnahmen.
Sunak: Dolchstecher von Boris Johnson?
In der Schlange zum Theatereingang stehen Lucy Holbrook, 55, und ihre 80-jährige Mutter Janet. Sie sind beide 70 Kilometer aus dem Küstenstädtchen Littlehampton angereist und wissen bereits, wer ihr Favorit ist: Liz Truss. Beide halten Sunak für den Dolchstecher von Boris Johnson. „Wissen Sie“, bedauert die pensionierte Sekretärin Janet, „ich hätte echt lieber Boris gehabt. Es war ein großer Fehler, ihn zu stürzen. Nur jemand wie er konnte so leicht Leute sowohl im Norden als auch hier hinter sich bringen.“ Tochter Lucy findet Truss’ Versprechen von Steuersenkungen richtig, da viele Familien jetzt Hilfe mit den gestiegenen Lebenshaltungskosten bräuchten. Colin Grey, 62, ist sich hingegen noch nicht sicher. „Für mich ist die wichtigste Frage, wer die Inflation bremsen kann“, sagt der ehemalige Stadtangestellte.
Bei der Veranstaltung in Eastbourne ist Truss als Erste dran. Als sie auf die Bühne kommt, spricht Truss länger als in Leeds über ihre Schulzeit, weil hier vermutlich niemand Roundhay kennt. Applaus erhält sie diesmal erst, als sie verspricht, die Bürokratie für die Bauern zu reduzieren.
Plötzlich steht eine junge Frau auf und ruft laut: „Liz Truss, Sie sollten sich schämen! Der Grund, weshalb normale Menschen es schwer haben, ist, weil Energiefirmen wie Shell und BP Rekordgewinne machen, während wir unseren Gürtel enger schnallen müssen.“ Eine weitere junge Engländerin stimmt ein: „Liz Truss, Sie haben keinen glaubwürdigen Plan, das allerwichtigste Thema unserer Zeit anzugehen!“ Weitere Personen stehen auf. Man kann sie im Chor der Torymitglieder, die nun gemeinsam alle laut „Raus, raus, raus!“ rufen, kaum mehr hören. Später bekennt sich eine Gruppe namens New Green Deal Rising zu dem Protest.
Truss schlachtet diese Störaktion aus. Sie schimpft über „Militante wie Extinction Rebellion und Gewerkschaften, die das Land, die demokratischen Prozesse und systemrelevante Dienste stören wollen“. Richtig großen Beifall erntet sie, als sie posaunt, sie werde dafür sorgen, dass Frankreich für die Flüchtlinge über den Ärmelkanal zur Verantwortung gezogen werde. Der Jubel wird noch lauter, als sie am Ende ihrer Rede verspricht, sie werde sich genauso gegen Grüne und Liberaldemokrat:innen einsetzen wie gegen Labour.
Eine Wahl zwischen Blau und Blau
Dann ist Sunak dran. Vizepremierminister Dominic Raab, einer der loyalsten Anhänger Boris Johnsons, stellt ihn vor, was wohl Sunaks Ruf als Johnson-Stürzer mildern soll. Sunak beginnt seine Rede wieder mit seiner Familiengeschichte. Auf der Bühne wirkt er dynamischer und zugleich gemäßigter als seine Kontrahentin. Es sei nicht richtig, nur in schwache Gegenden zu investieren, findet er: „Levelling-up bedeute auch, dass man in Gegenden wie Eastbourne investiere. Dem Publikum gefällt das. Dann wiederholt er, dass seine höchste Priorität dem Aufhalten der Inflation gelte. Hilfe für Betroffene müsse maßgeschneidert werden, direkt für jene, die es am meisten bräuchten, statt Steuersenkungen für alle, wie Truss es will.
Truss kontert später, sie werde neue Gasfelder in der Nordsee erschließen, um die Energiekrise zu meistern. Da meldet sich wieder ein Aktivist und stellt eine Frage zum Klimawandel. Auch er wird ausgewiesen. Ihre Popularität bei Extinction Rebellion sei ein Kompliment, witzelt Truss. Später antwortet sie auf die Frage eines konservativen Klimawandelskeptikers: „Wir müssen den Übergang zur Klimaneutralität angehen, allerdings auf eine Art, die nicht Haushalten und Unternehmen schadet.“ Sie plädiert für Lösungen aus dem Privatsektor, ebenso Sunak, als auch er gefragt wird.
In Eastbourne punktet offenbar Sunak, wie aus Gesprächen nach der Veranstaltung hervorgeht. Die konservative Parlamentsabgeordnete Gillian Keegan und ihr Mann erzählen der taz, dass sie beide hinter dem Ex-Finanzminister stehen. „Sunaks Kommunikationsfähigkeiten sind in Zeiten wie diesen besonders wichtig“, findet Keegans Ehemann Michael.
Dabei merken Tory-Mitglieder vielleicht, dass sich Sunak und Truss immer ähnlicher werden. Zur Einwanderungspolitik, zur Rolle von Unternehmen und zur EU sagen sie mehr oder weniger das Gleiche. Die Wahl ist zwischen Blau und Blau, nicht zwischen zwei verschiedenen Politikmodellen. Die konservative Basis will wissen: Wer von den beiden kann die nächste Parlamentswahl gewinnen, die vermutlich 2024 stattfindet? In den aktuellen Meinungsumfragen liegt der Vorsitzende der Labourpartei, Keir Starmer, solide vorn, allerdings mit einer Politik, die sich Boris Johnsons Programm stark angenähert hat: Aufbau des Nordens, britischer Patriotismus.
Für die Tories beginnt mit dieser Wahl ein Spiel um alles oder nichts. Beiläufige bissige Slogans und Versprechen, die so tun, als stünde alles zum Besten – das reicht nicht. Und doch könnten die Tories mit dieser Wahl auch Geschichte schreiben. Einen Premierminister of Colour, dessen Familie aus Indien stammt, hat es bisher im Vereinigten Königreich noch nie gegeben. Ob die konservative Basis jedoch für Derartiges zu haben ist? Wenn nicht, wird mit Truss die dritte Frau Premierministerin bei den Konservativen, entgegen Labours weißer Männerwirtschaft.
Es sind große Entscheidungen für gerade einmal 160.000 eingeschriebene konservative Parteimitglieder. Vor dem Theater von Eastbourne stößt die taz auf den jungen Aktivisten, der Truss vorher die Frage zum Klimawandel stellen wollte. „Ich finde, dass die Öffentlichkeit ein Mitspracherecht bei der Nominierung des nächsten Premierministers haben sollte“, sagt er. Aber es sind nur 0,2 Prozent der britischen Bevölkerung, die jetzt das Sagen haben. Bis zum 31. August stimmen sie ab. Wer auf Boris Johnson folgt, wird am 5. September verkündet.
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