Tokio 2020 als Corona-Beschleuniger: Olympische Infektion
Seit der Olympiaverschiebung steigt in Japan die Zahl der Corona-Infektionen rasant. Sind Risiken vernachlässigt worden, um die Spiele zu retten?
Seit aber am 24. März auf großen internationalen Druck hin „Tokyo 2020“ in den Sommer 2021 verschoben wurde, sieht auch in Japan vieles anders aus. Die Zahl bestätigter Infektionsfälle hat sich von rund 2.000 auf am Anfang der Woche über 10.000 mehr als verfünffacht. Die Zahl geschlossener Geschäfte ist in Tokio von 202 auf 3.082 gestiegen.
Nur einen Tag nach der Olympiaverschiebung erklärte Tokios Gouverneurin Yuriko Koike die ersten Anordnungen zum Daheimbleiben. Anfang April rief dann Premierminister Shinzo Abe den Ausnahmezustand für die größten Metropolregionen aus. Seit letzter Woche gilt die Maßnahme für das ganze Land. Und in Japan kommen Zweifel auf. Laut einer Umfrage des öffentlichen Rundfunksenders NHK finden drei Viertel, der Ausnahmezustand hätte früher verhängt werden sollen.
Man hält die Krise für verschleppt. Viele glauben, das lange Insistieren auf den Olympiaplan und die späte Reaktion auf die Gesundheitskrise hängen zusammen. Der Vorwurf: Offizielle hätten so lange am Olympiaplan festgehalten, wie dieser noch zu retten schien, und dafür Fragen der öffentlichen Gesundheit hintangestellt.
Erhoben wird er auch von prominenten Personen wie Koichi Nakano. Der Politikprofessor von der Sophia-Universität in Tokio gehört zu den profiliertesten Kritikern der japanischen Regierung. Er sagt: „Politisch betrachtet ist es schwer vorstellbar, dass die beiden Dinge nichts miteinander zu tun haben. Premierminister Abe und Tokios Gouverneurin Koike wollten die Olympischen Spiele unbedingt dieses Jahr veranstalten. Es ging ihnen um Wirtschaftspolitik und ihr Ansehen in der Öffentlichkeit.“
Testkapazitäten nicht ausgeschöpft
„Sie wollten Tokyo 2020 unbedingt retten“, so Nakano. Tatsächlich war Japan schon im Februar relativ stark vom Virus betroffen. Nachdem durch das Kreuzfahrtschiff „Diamond Princess“ auch Personen auf dem Festland infiziert waren, zählte für einige Zeit nur China noch mehr Infektionsfälle. Dass die Fallzahlen fortan in anderen Ländern explodierten, nicht aber in Japan, liegt aber kaum am entschlossenen Krisenmanagement.
Das Land schöpft seine Testkapazitäten nicht aus. Während Japan bis Ende März auf kaum 30.000 Tests pro Woche kam, sind es mittlerweile rund 70.000. Zum Vergleich: Deutschland hat in der vergangenen Woche 360.000 Tests durchgeführt. Die Situation in Japan hat lange deutlich besser ausgesehen, als sie wirklich war.
Auch Hitoshi Oshitani, Virologieprofessor an der Tohoku-Universität in Sendai und Mitglied des Krisenstabs der Regierung, gehörte zu den frühen Warnern. Schon im Februar hielt er die geplante Austragung von Olympia für unrealistisch. Aber er verneint, dass Japans Offizielle bis dahin bewusst Risiken vernachlässigt haben: „Es stimmt, dass wir das Ausmaß unserer Tests nicht besonders erhöht haben. Wir glauben, dass das auch nicht nötig ist“, erklärt Oshitani am Telefon.
„Wir verfolgen stattdessen die Kontaktpersonen der bestätigten Infektionsfälle, um Cluster zu erkennen. In den Clustern testen wir also intensiver.“ Zwar werden dadurch Fälle übersehen, aber dieses Problem gebe es überall auf der Welt. „Von Anfang an haben wir versucht, Menschen zu retten und nicht die Olympischen Spiele.“
Vertrauensverlust nach Fukushima
Nicht nur Koichi Nakano erkennt in der aktuellen Krise Parallelen zur Atomkatastrophe von Fukushima 2011. „Die Regierung setzte damals als Experten vor allem Atomphysiker ein, die den Menschen fälschlicherweise sagten, alles sei nicht so schlimm. Sie sprachen in Fachwörtern und arbeiten für die Ziele der Regierung. Zu deren Zielen gehörte aber, trotz allem an der Atomkraft festzuhalten.“
Für Yasuo Goto, einen emeritierten Ökonomieprofessor der Universität Fukushima, liegen die Prioritäten der Offiziellen heute ähnlich. „In Fukushima ging es um die Atomkraft. Bei Tokyo 2020 geht es der Regierung um deren Wirtschaftspolitik generell.“ Olympia sollte einen Aufschwung generieren, von der Internationalisierung japanischer Betriebe bis zu einem Tourismusboom.
Hiroki Ogasawara, Soziologieprofessor an der Universität Kobe, sieht in den Olympischen Spielen zudem den Versuch, unter die Atomkatastrophe in Fukushima einen Schlussstrich zu ziehen: „Abe hat Tokyo 2020 zu den Spielen des Wiederaufbaus erklärt. Deshalb sollten in Fukushima auch Wettbewerbe stattfinden. Denn mit Olympia will er das Ende der Krise dort erklären, auch wenn immer noch Zehntausende Menschen nicht in ihre Heimat zurückkehren können, weil die Strahlung zu hoch ist.“
Dass in vielen Köpfen eine Parallele zwischen der Verschleppung der Coronakrise inmitten der Olympiavorbereitungen und Fukushima gezogen wird, sagt indes viel aus über das seit der Atomkatastrophe zerstörte Vertrauen in öffentliche Institutionen. Die Organisatoren von Olympia sind zudem nicht besonders geschickt darin, den Vorwurf der Fahrlässigkeit zu entkräften. Auf eine Anfrage ans Tokioter Organisationskomitee erhält man jedenfalls nicht den Eindruck, als wäre für die Verschiebung der Veranstaltung das oberste Kriterium die öffentliche Gesundheit gewesen.
In einer Stellungnahme vom 31. März heißt es: „Während es derzeit keine Gegenden in Japan gibt, wo viele Infektionsfälle bestätigt sind, mussten weltweit viele Qualifikationsevents abgesagt werden, weil sich in vielen Ländern das Virus verbreitet hat. Einige Athleten und Nationale Olympische Komitees haben außerdem bekannt gegeben, dass sie unter den aktuellen Umständen nicht trainieren können. Und diese neue Situation hat uns große Sorgen gemacht.“
Regierungsberater Hitoshi Oshitani jedenfalls hatte schon im Januar, also zwei Monate vor der Olympiaverschiebung, vorhergesagt, dass es zu einer Pandemie kommen würde. Nun gelte es, die Schäden möglichst gering zu halten.
Aber lässt sich ein Olympiastart im Juli 2021, wie nun vorgesehen, überhaupt planen? Noch ehe die Frage ausgesprochen ist, unterbricht Oshitani: „Kein Kommentar. Das hängt noch von zu vielen Dingen ab.“
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