Schutz des brasilianischen Regenwaldes: Tödliche Suche nach Antworten
Vor drei Jahren wurden Dom Phillips und Bruno Pereira im Amazonasgebiet ermordet. Nun ist Phillips' unvollendete Recherche erschienen. Ein Auszug.

Dom Phillips hinterließ uns eine große Frage: Wie können wir den Amazonas retten? In einer Skizze für das letzte Kapitel seines unvollendeten Buches schrieb er: „Hört auf die indigenen Völker.“ Die Welt, ergänzte er, „ist keine unzusammenhängende, zufällige Aneinanderreihung von Nationen und Gesellschaften, sondern ein miteinander verbundenes Ganzes. Ihr Überleben hängt von Kooperation und nicht von Wettbewerb ab.“ Um das zu verstehen, argumentierte er, „sind die besten Lehrer die ursprünglichen Anwohner des Amazonas: seine indigenen Völker.“
Den 5. Juni 2022, den letzten Tag ihres Lebens, verbrachten Dom Phillips und Bruno Pereira damit, von genau diesen Lehrern zu lernen. Bevor ich den Schluss des Buches schrieb, das Dom nicht mehr vollenden konnte, folgte ich den Spuren der beiden Kollegen und kehrte zurück ins Javari-Tal, wo sich Dom und Bruno angefreundet hatten.
In Anbetracht seiner Lage an der Front eines tödlichen Konflikts wirkt der Lago do Jaburu im Tal wie ein überraschend ruhiger Ort. Ein paar typische Flusshäuser auf Stelzen, mit Holzwänden und Wellblechdächern, thronen über dem steilen Ufer des Flusses Itaquaí. Dom und Bruno waren hierher gekommen, um sich einem indigenen Beobachtungsteam anzuschließen, das an der Grenze zwischen dem hiesigen Schutzgebiet und seinem Hinterland patrouillierte.
Jonathan Watts, Mitbegründer der journalistischen Plattform „Sumaúma.com“ und des Rainforest Journalism Fund, lebt in Amazonien und ist Redakteur für globale Umwelt beim „Guardian“.
Am Morgen und Nachmittag dieses letzten Tages befragte Dom – sorgfältig wie immer – alle 13 Männer des Beobachtungsteams einzeln und stellte ihnen dieselben Fragen: Wie schützen sie ihr Gebiet? Für wen schützen sie die Natur? Wie sind sie von der politischen Situation betroffen?
Bolsonaros Angriff auf den Regenwald
Die politische Lage in Brasilien hatte sich nach der Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten im Jahr 2019 stark verändert. In Bolsonaros erstem vollen Jahr an der Macht erreichte die Abholzung des Amazonas das höchste Niveau seit mehr als einem Jahrzehnt. Die Treibhausgasemissionen Brasiliens stiegen von 2020 bis 2021 um 12 Prozent und erreichten damit den höchsten Stand seit 19 Jahren.
Gleichzeitig ging die Zahl der Bußgelder für Umweltverstöße um 38 Prozent zurück. Die rechtsextreme Regierung Bolsonaros ließ dies zu, wies dabei nicht nur jede Verantwortung von sich, sondern gab auch noch lautstark anderen die Schuld.
Ich erfuhr von Doms Interviews mit dem Beobachtungsteam durch ein Gespräch mit einem Mitglied dieses Teams; Higson Dias Kanamari vom Volk der Kanamari.
Higson erinnerte sich mit einer Mischung aus Zuneigung und Entsetzen an seine letzte Begegnung mit Dom. „Er war sehr glücklich, unter uns Indigenen zu sein“, sagte er. „Als er bei uns war, hatte er eine zweite Familie. Wir haben uns um ihn gekümmert. Ich habe gesehen, wie sehr er es genossen hat, bei uns zu sein. Wir konnten das Ausmaß des Bösen nicht vorhersehen, das andere Leute anrichten wollten.“
Über Morde an Weißen wird intensiver berichtet
Noch Wochen nach dem Tod von Dom und Bruno wurde die nächstgelegene Stadt Atalaia do Norte von Reportern überschwemmt. Die Einwohner stellten ironisch fest, dass die intensive Berichterstattung über den Tod eines weißen ausländischen Journalisten in krassem Gegensatz stand zu dem Mord an Maxciel Pereira dos Santos im Jahr 2019.
Maxciel war Beamter der Nationalen Behörde für Indigene (Funai) gewesen und hatte eng mit Bruno zusammengearbeitet, um illegale Fischerei- und Jagdaktivitäten aufzuspüren. Maxciels Familie glaubt, dass der Mord von denselben Menschen begangen wurde, die auch Bruno und Dom getötet haben. Aber niemand wurde jemals angeklagt, und der Fall schlug außerhalb der Region kaum Wellen.
Die unterschiedliche Behandlung der beiden Verbrechen sei aber nicht ausschließlich heuchlerisch, sagte Higson. Sie zeige die Macht von Geschichten, die ein globales Publikum anziehen. „Als sie Maxciel töteten, passierte nichts. Aber bei Dom und Bruno gab es ein enormes Interesse.“ Er wertete das positiv: „Durch die Medien erfuhr die Welt von den Verteidigern des Waldes.“
Der Mord
Am 5. Juni 2022 wurden der britische Journalist Dom Phillips und der brasilianische Indigenenexperte Bruno Pereira während einer Reportagereise im Amazonasgebiet erschossen. Sie recherchierten dort für ein Buch. Beide hatten schon zuvor aufgrund ihrer Arbeit Todesdrohungen erhalten.
Der Auftrag
Jonathan Watts, Phillips Freund und Journalist beim britischen „Guardian“ beschloss gemeinsam mit anderen Autor*innen, das geplante Buch fertig zu schreiben. Watts hatte mit Philipps jahrelang aus Brasilien berichtet und dokumentiert, wie Landwirtschaft, Fischerei und Bergbau den größten tropischen Regenwald der Welt zerstören und damit auch die indigenen Völker der Region. „How to Save the Amazon – A journalist's deadly quest for answers“ („Wie man den Amazonas rettet – Die tödliche Suche eines Journalisten nach Antworten“) ist nun genau drei Jahre nach der Ermordung auf Englisch erschienen.
Dom war ein ungewöhnlicher Amazonas-Märtyrer. Er war weiß und stammte aus einem reichen Land. Die meisten anderen Ermordeten waren Indigene, Nachfahren entflohener Sklaven, Kleinbauern – Opfer von Morden, die nie untersucht oder von den Medien berichtet wurden, Menschen, deren Namen und Gesichter außerhalb ihrer Heimatstädte weitgehend unbekannt waren.
Weltweit wurden seit 2012 mehr als 1.900 Menschen ermordet, weil sie versuchten, ihr Land und ihre Ressourcen zu schützen, durchschnittlich ein Mord alle zwei Tage.
Eine indigene Umweltministerin
Ich frage mich, wie Dom über die Jahre nach Bolsonaro geschrieben hätte. Seit seinem und Brunos Tod gab es einige positive Anzeichen für Veränderungen. Im Jahr 2023 versprach der neue brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, bis zum Ende des Jahrzehnts die Abholzung vollständig zu stoppen, ernannte mit Sônia Guajajara die erste indigene Ministerin Brasiliens, erkannte mehr als ein halbes Dutzend neue indigene Gebiete an, machte erste Schritte in Richtung einer Wirtschaft, die nachwachsende Rohstoffe ins Zentrum rückt.
Seine Umweltministerin, die Amazonasbewohnerin Marina Silva, verlangsamte Genehmigungen für Ölbohrungen in der Nähe der Mündung des Amazonas und eine neue Lizenz für den im Bau befindlichen Belo-Monte-Staudamm, dessen Reservoir 668 Quadratkilometer des Amazonas überschwemmen würde.
All das waren echte Fortschritte, wenn auch ungleichmäßig und bei Weitem nicht genug. Vor Ort im Javari-Tal, berichteten Indigene, habe sich die Situation hingegen nicht verbessert. Woanders verschärften sich einige Probleme sogar.
Das von der Agrarindustrie dominierte Parlament beschloss, Indigenen Rechte an ihrem Land künftig seltener zu garantieren. Und versuchte, neue Megaprojekte voranzutreiben, darunter eine umfassende Modernisierung der Autobahn BR-319 durch eines der letzten unberührten Regenwaldgebiete.
Das erinnert uns daran, dass eine von der Regierung geführte Kommando- und Kontrollpolitik zwar wichtig, aber nur begrenzt wirksam ist. Die Abholzung wurde um beeindruckende 50 Prozent reduziert, aber das hat die Zerstörung lediglich verlangsamt. Der Amazonas nähert sich weiterhin einem Kipppunkt.
Wie wir über den Wald nachdenken
Wenn der Wald und seine Bewohner sich dagegen wehren und ihre Vielfalt, Unabhängigkeit und traditionelle Kultur bewahren sollen, ist eine tiefgreifendere Transformation erforderlich. Kern des Kampfes um den Amazonas ist der Kampf um die Herzen und Köpfe der Menschen.
Natürlich: Das Territorium vor Ort zu verteidigen, ist ein entscheidender erster Schritt. Sich Unterstützung durch die Regierung zu sichern, könnte die Zerstörung verlangsamen. Auch Transparenz in den Lieferketten für Rindfleisch und Soja würde helfen. Und ein Umdenken bezüglich zerstörerischen Infrastrukturprojekten.
Lebende Wälder toten Wäldern vorzuziehen, wäre ein entscheidender Wendepunkt. Die Sicherung internationaler Finanzmittel muss den Übergang zu einer nachhaltigen Zukunft beschleunigen.
Ökotourismus und CO₂-Steuern könnten ebenfalls eine Rolle spielen. Globale Pharmakonzerne dazu zu zwingen, sich an den Vorteilen der biologischen Vielfalt zu beteiligen, würde Anreize für die Erhaltung der Wälder schaffen und Lebensgrundlagen schützen.
Doch damit all diese Ideen umgesetzt werden können, müssen wir auf gesündere Weise über den Wald nachdenken. Es geht darum, zuzuhören und eine neue Beziehung zur Natur aufzubauen. Oder besser noch, den Wert einer alten Beziehung wiederzuentdecken.
Das ist nicht kompliziert. Es kann ganz instinktiv das Vergnügen daran sein, die Welt so zu sehen, wie sie sein sollte. Es kann sogar mit dem einfachen Ausdruck von Freude beginnen, den Dom im letzten Social-Media-Beitrag seines Lebens geteilt hat: Amazônia, sua linda! – Amazonien, du Schönheit!
Aus dem Englischen von Jonas Waack
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