Tod nach Polizeieinsatz: Koste es, was es wolle
Medard Mutombo soll von der Berliner Polizei in die Psychiatrie gebracht werden. Der Einsatz endet tödlich. Sein Bruder fordert Konsequenzen.
Jedes Wochenende habe er den Bruder besucht. Beim letzten Mal, es war der 10. September, sei Medard verändert gewesen. Sein Zimmer habe ausgesehen wie das eines Messis. „Auch die Pfandflaschen wollte er mir nicht wie sonst zum Umtauschen mitgeben.“ Von Mitarbeitern des Heims habe er erfahren, dass Medard die Betreuer nicht mehr ins Zimmer lasse. Die Tabletten zur Behandelung der Schizophrenie schiebe man unter der Tür durch. Ob er sie schlucke, wisse man nicht.
Kupa Ilunga Medard Mutombo lebt nicht mehr. Am 14. September waren Polizisten in dem Wohnheim angerückt, um ihn auf Grundlage eines richterlichen Unterbringungsbeschlusses in die geschlossene Psychiatrie zu bringen. Der Einsatz endete in einer Katastrophe: Drei Wochen lag der psychisch kranke Mann danach im Koma. Am 6. Oktober starb er in der Charité.
Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art. Immer wieder haben sich Polizistinnen und Polizisten überfordert gezeigt beim Umgang mit psychisch Kranken. Immer wieder sind Menschen, die in einer seelischen Ausnahmesituation waren, bei Polizeieinsätzen ums Leben gekommen. Zumeist wurden sie erschossen. An dem Einsatz in dem Spandauer Wohnheim sollen 16 Polizisten und sogar Hunde beteiligt gewesen sein. So hat es Mutombo Mansamba in Erfahrung gebracht.
Mutombo Mansamba ist Steuerberater, 1982 kam er als Asylbewerber nach Berlin. Sieben Kinder seien sie zu Hause im Kongo gewesen, erzählt der 67-Jährige bei einem Treffen mit der taz. Zu Medard habe er immer eine besondere Beziehung gehabt: Er sei in der Geschwisterfolge nach ihm der nächste gewesen.
Doch von der schwierigen Lage, in der sein Bruder zuletzt steckte, war Mutombo Mansamba absolut ahnungslos. Weder sei er informiert worden, dass der Bruder in die Psychiatrie kommen sollte, noch habe er im Nachgang von dem verhängnisvollen Polizeieinsatz erfahren. Dabei hätten ihn alle in dem Heim aufgrund seiner regelmäßigen Besuche gekannt, sagt Mansamba. „Meine Telefonnummer lag in der Akte.“
Auch die Polizei ließ eine Woche verstreichen, bevor sie den Vorfall am 22. September öffentlich machte. In einer kurzen Pressemitteilung wurden die Ereignisse so dargestellt: Die Uniformierten seien am 14. September um Amtshilfe gebeten worden – von wem, ergibt sich aus der Pressemitteilung nicht. Die Einsatzkräfte seien erst eingeschritten, als Betreuer und Pflegepersonal den Betroffenen nicht hätten überzeugen können, freiwillig mit ihnen mitzugehen. Zunehmend aufgebrachter werdend habe sich der Betroffene gegen die Mitnahme gewehrt, auch mit Tritten, Schlägen und Bissversuchen. Ihm hätten deshalb Handfesseln angelegt werden müssen. Beim Abführen aus dem Zimmer habe er weiter „massiv Widerstand“ geleistet und sei dann „in dessen Folge“ kollabiert.
Sein Bruder konnte nichts mehr für ihn tun
Nach Reanimationsmaßnahmen wurde Medard in das Waldkrankenhaus Spandau gebracht. „Herzstillstand nach körperlicher Auseinandersetzung. Wiederbelebung nach 25 Minuten“, lautete die Diagnose des Krankenhauses. Die taz konnte das Schriftstück einsehen. Fünf Tage später erfolgte die Verlegung in die Charité. Erst jetzt, es war der 21. September, wurde Mansamba informiert – von den behandelnden Ärzten. Für seinen Bruder, der mit geschwollenem Gesicht an Schläuchen hängend auf der Intensivstation lag, konnte er nichts mehr tun.
Medard ist inzwischen auf einem Friedhof in Tempelhof beerdigt worden. Die Staatsanwaltschaft hat in der Todessache ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt eingeleitet. Nach Angaben des Pressesprechers Sebastian Büchner hat die Obduktion des Leichnams aber keine Hinweise ergeben, dass der Tod auf ein Fremdverschulden zurückzuführen ist. „Anhaltspunkte für eine massive äußere mechanische Gewalteinwirkung“ seien „nicht zu erkennen“ gewesen. Mit den Ergebnissen einer zusätzlich veranlassten toxikologischen und feingeweblichen Begutachtung, die vielleicht eine Erklärung für den Zusammenbruch liefere, sei erst in Monaten zu rechnen. Unter dem Strich klingt das so, als würde das Ermittlungsverfahren demnächst eingestellt werden.
Für Mansamba ist das eine unerträgliche Vorstellung. Die bei der Obduktion festgestellte Todesursache lautet durch „Sauerstoffmangel bedingter Hirnschaden“, Mansamba hat das schwarz auf weiß. „Bevor die 16 Polizisten in das Heim gekommen sind, war mein Bruder intakt. Er war psychisch krank, aber er lebte“, sagt Mansamba. „Als sie weggingen, lag er halb tot im Krankenhaus. Wenn einer sagt: Kein Hinweise auf Fremdverschulden, dann koche ich.“
Bei Polizeieinsätzen gegen psychisch Kranke kommt es immer wieder zu Todesfällen. Meist geschieht das durch Gebrauch der Schusswaffe. Es gibt keine offiziellen Statistiken. Aber Experten wie der Kriminologe Thomas Feltes gehen davon aus, dass in drei von vier Fällen von der Polizei getötete Menschen psychisch krank waren oder sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden haben.
Die Zeitschrift „Bürgerrechte & Polizei/CILIP“ dokumentiert die Hintergründe zu durch polizeilichen Schusswaffengebrauch verursachten Todesfällen. 9 Fälle gab es bundesweit bisher allein in diesem Jahr. 6 hat „Cilip“ mit dem Vermerk versehen: Mutmaßlich psychische Ausnahmesituation und/oder Drogen und Alkoholkonsum.
Für besonderes Aufsehen sorgte der Fall des 16-jährigen Geflüchteten Mohammed Lamine Dramé, der am 8. August in Dortmund von einen Polizisten mit einer Maschinenpistole erschossen wurde. Ein Betreuer hatte die Polizei gerufen, weil der Junge – offenbar in Suizidabsicht – mit einem Messer hantiert hatte. In Mannheim erstickte im Mai ein psychisch Kranker, nachdem er von der Polizei gefesselt worden war. In Dortmund starb ein Obdachloser im vergangenen Oktober nach einem Tasereinsatz. Der letzte Fall in Berlin ereignete sich im Januar 2020. Ein Mann hatte die Polizei alarmiert, weil seine 33-jährige psychisch erkrankte Mitbewohnerin ihn mit einem Messer bedroht hatte. Die Frau starb durch einen Schuss in den Oberkörper. (plu)
Die Schizophrenie seines Bruders hatte sich entwickelt, als Mansamba in Berlin war. Sofort nach seiner Einbürgerung in Deutschland habe er die Familie in Afrika besucht. Im Kongo gebe es keine Infrastruktur, um psychisch Kranke adäquat behandeln zu können. Die überforderte Mutter habe Medard zu einem Scharlatan gebracht. Der habe den Bruder mit einer Kette an einen Baum gebunden. „Als ich das sah, habe ich alles getan, um ihn hierherzuholen.“
Medard lebte schließlich seit 1995 in Berlin. Er war schon zu krank, um noch die Anhörung im Asylverfahren absolvieren zu können. Er bekam eine Duldung und einen gesetzlichen Betreuer, das Flüchtlingsamt sorgte für Unterbringung und medizinische Hilfe. „Das hat ihm und mir sehr geholfen“, sagt Mansamba. Die Betreuer hätten zwar öfter gewechselt. „Aber ich hatte immer das Gefühl, dass Medard in guten Händen war.“
Schon einmal, 2019, habe es eine Krise gegeben. Auch da habe Medard seine Tabletten nicht genommen, erzählt Mansamba. Ohne Probleme habe man ihn seinerzeit ins Krankenhaus gebracht und medikamentös wieder eingestellt.
Der Beschluss des Amtsgerichts Spandau, in dem die vorläufige Unterbringung in der Psychiatrie angeordnet wird, liegt der taz vor. Er trägt das Datum vom 24. August 2022. „Bis längstens 17. September“ sei die Unterbringung genehmigt, heißt es. Begründet wird die Maßnahme so: „Der Betroffene muss geschlossen untergebracht werden, weil er massiv in Form einer körperlich-seelischen Verelendung verwahrlosen würde und der Verlust der Unterkunft ansonsten zu erwarten ist.“ Wegen Gefahr im Verzug wurde die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet.
Viele Fragen drängen sich auf, allen voran diese: Wenn Gefahr im Verzug war, warum wurde mit der Vollstreckung bis zum 14. September gewartet? Warum wurde der Einsatz schließlich mit so einem Ehrgeiz durchgezogen? Lag es daran, dass die angeordnete Freiheitsentziehung drei Tage später am 17. September unwirksam geworden wäre – die Zeit also knapp war?
Es gibt niemanden, der Mansamba darauf Antworten gibt. Er hat inzwischen eine Rechtsanwältin eingeschaltet, der Sachverhalt müsse in einem Gerichtsverfahren geklärt werden, fordert er.
Seit dem Tag, an dem er den Bruder im Koma vorfand, hat Mansamaba mit vielen Leuten gesprochen. Warum er nicht informiert wurde, habe er den Heimleiter gefragt. Der habe angenommen, dass der gesetzliche Betreuer das tue, berichtet Mansamba. Aber der Heimleiter habe ihm auch gesagt: Der Polizeieinsatz sei völlig überproportioniert gewesen. „Und er fügte hinzu: ‚Sogar mit Hunden sind sie gekommen – wir haben uns alle gefragt, ob wir hier Terroristen haben?‘“ Gegenüber der taz wollte sich der Heimleiter mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen nicht äußern.
Auch mit dem gesetzlichen Betreuer hat Mansamba gesprochen. Von diesem wisse er, dass zunächst drei Polizisten vor dem Zimmer standen und 13 weitere zur Verstärkung hinzukamen. „Medard rauchte, der Fernseher lief, als man bei ihm klopfte“, fasst Mansamba die Schilderung des Betreuers ihm gegenüber zusammen. „Medard hat die Tür einen Spalt geöffnet, und dann sind die Polizisten rein. Sie haben versucht, seine Hände auf dem Rücken zu fixieren, um ihm Handschellen anzulegen. Medard hat sich gewehrt, er hat gekämpft.“
Bei dem Gerangel habe Medard Blut gespuckt, das sei ihm mit einer Decke abgewischt worden. So habe es der Betreuer ihm geschildert. Ein Polizist habe auf Medards Nacken gekniet – „so wie bei George Floyd“. Wortwörtlich habe der Betreuer den Namen George Floyd benutzt. „Da bin ich mir sicher“, sagt Mansamba. „Mein Freund war dabei. Er musste das Gespräch mit dem Betreuer weiterführen, weil ich in Tränen ausgebrochen bin.“ Auch der Betreuer war mit Verweis auf die Ermittlungen nicht zu Auskünften gegenüber der taz bereit.
Für Mansamba steht fest: Medard würde noch leben, wäre der Einsatz nicht, koste es, was es wolle, durchgezogen worden. Wenn die Polizisten das Zimmer verlassen und abgewartet hätten, bis die Erregung abgeklungen wäre; dazu raten Experten immer wieder. Medard habe überhaupt nicht verstanden, was mit ihm passierte, das steht für Mansamba fest. Und: „Man hätte mich einbeziehen müssen. Ich hätte mit meinem Bruder sprechen können.“ Medard habe nie Deutsch gelernt, dafür sei er zu krank gewesen. „Ich habe mit ihm Französisch gesprochen oder Lingala, unsere Sprache.“
Es gehe nicht um Rassismus
Das Vorgehen der Polizisten auf Rassismus zurückzuführen, „damit ist niemanden gedient“, warnt Mansamaba. Der Schwarze US-Amerikaner George Floyd war 2020 von einem Polizisten bei seiner Festnahme mit dem Knie im Nacken erstickt worden. „Mein Bruder starb nicht, weil er wie Floyd ein Schwarzer war“, sagt Mansamaba. „Aber bei Medard wurde die gleiche Methode praktiziert, die mutmaßlich ursächlich für den Sauerstoffmangel war.“ Polizisten seien der Situation mit psychisch Kranken schlichtweg nicht gewachsen. Immer wieder zeige sich das. „Man muss daraus endlich Konsequenzen ziehen.“
Die Polizei-Pressestelle teilte auf Nachfrage mit, die Verfahrensweise mit Personen in psychischen Ausnahmesituationen sei seit vielen Jahren „integraler“ Bestandteil der Aus- und Fortbildung. Im Mittelpunkt stehe dabei „die konflikt- und gefährdungsarme Interaktion“ mit dem Gegenüber. Zum Einsatz am 14. September in dem Wohnheim könne man aufgrund der laufenden Ermittlungen keine näheren Auskünfte mehr geben. Ein Detail bestätigt die Pressestelle aber doch: Es waren Diensthundeführer vor Ort. „Die jedoch“, wie es heißt, „nicht zum Einsatz kamen.“
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