Tod in einer Toilette am Mariannenplatz

Der 23jährige Karsten Kunze starb an einer Überdosis Heroin. Seine Mutter ißt nichts mehr, sein Vater ist voller Wut. Beide hatten hart darum gekämpft, den Sohn von der Sucht abzubringen, fühlten sich vom Staat aber vollkommen im Stich gelassen  ■ Von Niko Jahn

Die beiden Polizisten klingeln um acht Uhr morgens. Manfred Kunze (47) weiß sofort, daß Furchtbares geschehen ist. Er kennt diese Szene, hat so oft davon geträumt, daß sie eines Morgens kommen und ihm sagen würden, daß sein Sohn tot sei. Als dieser Alptraum Wirklichkeit wird, reißt ihn der Schock trotzdem beinahe von den Beinen. Karsten sei heute nacht tot aufgefunden worden, sagen die Beamten mit leiser Stimme. Anita Kunze (46) kommt an die Haustür, hört die Worte mit. Siebeneinhalb Jahre lang hat sie sich vor dieser Situation gefürchtet. Als der Horror wahr wird, bricht sie lautlos zusammen.

In dieser Nacht hat Karsten Kunze (23) in einer öffentlichen Toilette am Mariannenplatz in Berlin Kreuzberg die letzte Dosis Heroin auf einer präparierten Coladose zum Schmelzen gebracht, auf die Spritze gezogen und irgendwo in den zerstochenen Körper injiziert. Der junge Mann war in den frühen Morgenstunden in dieser hochmodernen Nirosta- Toilette entdeckt worden.

Die Eltern werden nie erfahren, ob er sich absichtlich den „goldenen Schuß“ setzte, ob er sich tödlich schlechte Qualität spritzte. Sie werden auch nie genau wissen, wie es geschah. Ob Karsten Qualen litt oder friedlich starb.

Das Ende eines Drogensüchtigen. Einer von 753 Drogentoten im ersten Halbjahr 1996 in der Bundesrepublik. Einer, dessen Sterben dazu beitrug, die Zahl der Drogentoten im Vergleich zu 1995 um zehn Prozent zu erhöhen. Einer von 94 Drogentoten im ersten Halbjahr 1996 in der Metropole Berlin.

Der Vater wird seinen toten Sohn identifizieren, wird aus dem Obduktionsbericht lediglich erfahren, daß sein Sohn den Drogentod starb.

Die Mutter ißt nicht mehr. Sie verbarrikadiert sich in der Wohnung, sitzt stundenlang vor dem Bild ihres einzigen Sohnes, des ältesten Kindes, und kündigt ihren Selbstmord an. Manfred Kunze hat jetzt auch noch die Sorge um seine Frau. Sie geht nur noch aus, um ihr totes Kind auf dem Friedhof zu besuchen. Auf das Grab hat sie ein seidenes besticktes Herz gelegt. „Ich liebe Dich“ steht darauf.

In dem Vater wächst die Wut. Die Wut gegen diese Gesellschaft, die ihn allein gelassen hat, auf diesen Staat, der zuläßt, daß gewissenlose Dealer ihren Stoff verkaufen. „Auch an Kinder!“ sagt er wütend. „In aller Öffentlichkeit.“

Er versteht die Welt nicht mehr und fühlt sich ungerecht behandelt. So, wie alle seinen toten Sohn ungerecht behandelt haben. Und er stellt sich selbst bohrende Fragen. Warum mußte Karsten sterben? Was haben wir falsch gemacht? Weshalb hat niemand Karsten wirklich geholfen? Weshalb wurden die Eltern in ihrem Kampf gegen die Sucht des Sohnes allein gelassen?

Alles Denken kreist am Ende um einen Punkt: Haben auch wir Karsten am Ende allein gelassen?

„Acht Wochen war er schon in Therapie“, berichtet Kunze. „Aber das waren auch acht Wochen totaler Kontaktsperre.“ In der ersten Phase der Therapie dürfen die Patienten niemanden außerhalb des Krankenhauses sehen. „Daß wir aber nicht mal mit ihm telefonieren durften, daß Briefe an ihn zurückgeschickt wurden, haben wir nicht gewußt“, sagt Kunze. „Dabei hing er sehr an unserer Familie, besonders an der Mutter. Ich glaube, die Kontaktsperre hat ihm den Rest gegeben. Das hätten wir nicht zulassen dürfen. Aber was wissen wir schon?“

Strenge Regeln herrschen im Entzug, das Verbot von „Paarbeziehungen“, Vorschriften über den Umgang mit Geld bis hin zur Kleidung und dem Tragen von Schmuck.

„Jeder Mensch ist doch anders“, sagt Vater Kunze. „Jeder hat doch andere Interessen und Vorlieben.“ Sie haben die vielen Verbote schon damals nicht verstanden, aber trotzdem gehofft, daß die Therapie Erfolg hat. Karsten hat es nicht ausgehalten, ist nach acht Wochen aus dem Krankenhaus davongelaufen, schnurstracks nach Hause gefahren.

„Er war so merkwürdig, hat uns nur still angesehen“, erinnert sich die Mutter. „Es war, als ob er Abschied nehmen wollte, richtig unheimlich. Ich hatte große Angst um meinen Sohn.“

Der Vater redet mit Karsten, macht ihm Vorhaltungen, ruft im Krankenhaus an, möchte den Sohn wieder zurückbringen. Aber das erweist sich als schwierig.

„Die haben gesagt, daß sie darüber erst mal in der Gruppe diskutieren müssen“, sagt Kunze wütend. „Karsten hat das mitbekommen. Das hat ihn auch gewurmt.“

Am nächsten Tag noch immer keine Antwort aus dem Krankenhaus. Karsten setzt sich auf ein Bier in den Garten der Eckkneipe, ein paar Häuser weiter am Landwehrkanal. Seine Geschwister setzen sich dazu.

„Ich liebe dich“, sagt er zu seiner Schwester Sabine (27). „Paß auf dich auf!“ zur Schwester Natascha (16). Dann steht er abrupt auf, zahlt und geht über die Brücke davon, ohne sich umzusehen. Am nächsten Morgen klingelt die Polizei bei der Familie Kunze.

„Das war's“, sagt Kunze verbittert. „Da geht dein Kind weg und ist ein paar Stunden später tot. Ist doch fast normal, oder? Wir dürfen nicht zulassen, daß so was normal ist. Dann machen wir uns mitschuldig.“

Manfred Kunze ist Kreuzberger in der x-ten Generation, ein rechtes Schlitzohr auch, einer, der immer irgendwie durchkommt. Selbstzweifel waren ihm bis zum Tod seines Sohnes ziemlich fremd. Er hat immer wieder geglaubt, daß er auch Karsten „in den Griff bekomme“, hat versucht, Karsten selbst zu therapieren, wenn er mal wieder keinen Therapieplatz für ihn bekam. Er hat ihn wochenlang zu Hause eingesperrt, die Rollos vor dem Zimmer vernagelt, nächtelang mit seinem Jungen Pläne für die Zukunft gemacht. Siebeneinhalb Jahre lang hat dieser Kampf gedauert. Seit Karsten mit 16 Jahren die Schule verließ.

„Er wußte nach der Schule nicht, was er wollte, war mutlos, eine schlimme Zeit für ihn“, sagt die Mutter. „Da ist er in diese Kreise und dadurch an die Drogen geraten.“

Diese Kreise sind auch am „Kotti“ zu Hause, dem Drogenumschlagplatz Kottbusser Tor in Kreuzberg. Hier kann man den schleichenden Drogentod sehen. Gestern noch saßen die Jungen und Mädchen mit ihren großen Hunden bettelnd vor den Geschäften, heute sind sie plötzlich verschwunden.

Am „Kotti“ hat Vater Kunze oft nach seinem Sohn gesucht. Auch in der Skalitzer Straße, am Mariannenplatz, ein paar Straßen weiter, zwischen den Büschen der Parkanlage, in den Klos. Er hat ihn überall gesucht, wo Dealer ihr Unwesen treiben, an der Kurfürstenstraße, am Breitscheidplatz in der City, am Bahnhof Zoo, am Rosenthaler Platz, am Warschauer Platz, den Sohn auch mal aus Drogenkneipen geholt.

Die Kunzes sind eine sogenannte heile Familie. Vier Kinder, ein Sohn, drei Mädchen, inzwischen eine ganze Menge Enkel. Die meisten sehen der Mutter verblüffend ähnlich, einige dem Vater. Ein starkes Familiengefühl, Mutter und Vater kümmern sich um alles, sind immer da.

Vater Kunze ist der Boß, das ist klar. Karsten hat vermutlich Probleme gehabt mit diesem lauten, poltrigen Vater. Er wäre gern so einer wie der Vater gewesen, sagt die Mutter, einer, der alles zu können scheint: Obstverkäufer, Kneipier, Hausmeister. Und manchmal alles auf einmal.

„Paßt mal auf!“ hat Karsten einmal gesagt. „Eines Tages komme ich im Auto, habe einen guten Job, heirate und habe Kinder.“ Kinder habe er sich immer gewünscht, sagt die Mutter.

Nachbarn kennen den schlaksigen Jungen, der manchmal im Innenhof mit den kleinen Kindern Fußball spielte, wenn es ihm etwas besserging. In solchen Zeiten hatte er auch eine Freundin, und alles schien sich zu normalisieren. Doch der Rückfall in die Drogensucht kam meist sehr schnell. Dann war alles wieder aus.

„Natürlich hat es mir weh getan, daß Michaela abgehauen ist“, schreibt er über seine Exfreundin in einem seiner Wochenberichte, ebenfalls Vorschrift während der Suchttherapie. „Aber ich sage mir auch: Es kann alles nur besser werden mit mir.“

Es wurde nicht besser. Hoffnung gab es immer nur für kurze Zeit. Der hübsche Kerl fand wieder eine neue Freundin. Doch bald ging er wieder unter in der Szene, klingelte bei Vater und Mutter, wenn nichts mehr weiterging. Und die hofften, daß es diesmal klappen würde mit dem Entzug.

1991 schien es zu klappen. Das war, als kurz nacheinander zwei seiner Freunde den Drogentod starben: Haakan und Pille, beide gerade 21 Jahre alt. Der Tod der Freunde hat Karsten sehr mitgenommen. Damals schwor er den Drogen ab. Doch er hat es nicht ausgehalten.

Nach Meinung der Eltern haben Behörden, Institutionen, Staat schon damals versagt.

„Niemand wollte ihm helfen, als er ein paar Wochen später doch wieder zu den Drogen griff“, klagt der Vater Manfred Kunze. „Karsten war am Ende, hat mit Selbstmord gedroht, ich wußte mir keinen Rat mehr.“

Er brachte seinen Sohn noch in der Nacht ins Krankenhaus. Abgewiesen.

Er ging mit seinem Sohn zum Arbeitsamt, bat, dem Jungen zu helfen, ihm eine Arbeit zu vermitteln. Abgelehnt.

Er flehte die Drogenberater an, Karsten in einer geschlossenen Anstalt unterzubringen. Abgelehnt. Er hätte seinen Sohn vorher entmündigen lassen müssen. Vater Kunze war hin- und hergerissen zwischen Liebe zu seinem Sohn und dem Wunsch, dem Jungen auch mit Gewalt die Sucht auszutreiben. Manchmal hat er sogar gehofft, daß sein Sohn endlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt würde, wenn er mal wieder bei einer Straftat zur Beschaffung der Drogen erwischt wurde. Aber er tat das Gegenteil, hat seinen Sohn immer wieder vor Gericht rausgepaukt, hat den Richtern plausibel gemacht, daß Karsten im Knast vor die Hunde gehen würde, daß er in die nächste Therapie gehen, eine Arbeit suchen würde.

„Doch niemand wollte ihm Arbeit geben, keiner wollte den Drogensüchtigen. Es ging immer in erster Linie darum, wer die Kosten trägt“, klagt Kunze an. „Der Mensch ist denen doch egal.“

Karsten ist würdig bestattet worden, unter hohen Bäumen. Sein Grabstein ist bestellt. Er wird die Form eines Herzens haben. Die Mutter kommt nicht mehr zur Ruhe, ist völlig abgemagert. Der Vater ist traurig und voller Wut.

„Was wird denn für unsere Kinder getan?“ fragt Manfred Kunze verzweifelt. „Jetzt wird noch mehr gespart bei den Freizeiteinrichtungen. Keine Lehrstellen, keine Hoffnung.“

Der Staat scheue keine Kosten, wenn es um Verkehrsübertretungen gehe, sagt er wütend. Hunderte Politessen würden eingesetzt, um Parksünder abzustrafen. Niemand aber kümmere sich um die Drogendealer. Kunze ist streitbar geworden.

„Dieses sinnnlose Sterben muß ein Ende haben!“ schimpft er. „Am liebsten würde ich hingehen, an den „Kotti“ oder sonstwohin, und diese Schweine selbst bestrafen.“ Er fühlt sich nach Karstens Tod noch hilfloser, will etwas tun, weiß aber nicht genau, was.

„Ich will, daß die Gleichgültigkeit gegen Kinder und junge Menschen endlich aufhört“, sagt Manfred Kunze leise. „Ich frage die da oben: Wollt ihr unseren Nachwuchs vernichten? Was wäre eine Welt ohne Kinder?“