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Tod eines Geflüchteten in HarsefeldAufklärung für Kamal Ibrahim

Im Oktober erschossen Po­li­zis­t*in­nen im Landkreis Stade einen Geflüchteten. Nun gibt es eine Anzeige gegen die Polizei und den Landkreis.

Im Oktober demonstrierte die sudanesische Community in Stade gegen Polizeigewalt Foto: Michael Trammer

Hannover taz | Knapp vier Monate sind mittlerweile vergangen, seit Kamal Ibrahim, ein Geflüchteter aus dem Sudan, in Harsefeld im Landkreis Stade bei einem Polizeieinsatz erschossen wurde. Ibrahim hatte wiederholt seine Mitbewohner und mutmaßlich auch die Po­li­zis­t*in­nen mit einem Messer bedroht. Bis heute liegen keine Ermittlungsergebnisse zum Tod des 40-Jährigen vor. Ob es sich um Notwehr seitens der Be­am­t*in­nen gehandelt haben könnte, ist damit noch nicht geklärt. Die Ermittlungen dauern laut Staatsanwaltschaft Stade an. Details wollte ein Pressesprecher am Telefon nicht nennen.

Elf Bür­ge­r*in­nen des Landkreises Stade haben nun das Warten satt. Sie haben zusätzlich zu den polizeilichen Ermittlungen einen Strafantrag wegen Verdachts auf Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge und unterlassene Hilfeleistung eingereicht. Man habe die Hinweise erhalten und beziehe diese in die Ermittlungen ein, so die Staatsanwaltschaft. Ob das Verfahren zur Anklage gebracht oder eingestellt werde, sei noch offen.

„Das Hauptmotiv ist eine rechtsstaatliche Klärung der Vorgänge auf allen Ebenen“, sagt Hellmuth Färber, einer der Anzeigenden, am Telefon. Färber ist pensionierter Lehrer für Politik und Französisch und gibt nun Deutschkurse für Geflüchtete. Seit über 30 Jahren engagiert er sich bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International.

Alle Un­ter­zeich­ne­r*in­nen der Strafanzeige finden, es müsse geklärt werden, ob der Einsatz verhältnismäßig gewesen sei, sagt Färber. Es sei auch zu klären, ob von der Einsatzleitung entsprechende Notfallpläne für psychische Ausnahmesituationen beachtet worden seien und wie die Gemeinde im Fall Kamal Ibrahim insgesamt handelte. Denn dass Kamal Ibrahim psychische Probleme hatte, war bekannt. Gehandelt wurde wohl trotzdem nicht.

„Es war klar, dass er krank ist“, sagt Ali Hashim, einer der ehemaligen Mitbewohner Ibrahims. Nachdem Ibrahim aufgehört hatte zu arbeiten, hatte er sich immer weiter zurückgezogen. Schon am 27. September war Hashim deswegen im Rathaus. Mit dem Betreuer der Gemeinde verständigte er den sozialpsychiatrischen Dienst. Ute Kück, die Bürgermeisterin von Harsefeld, bestätigt das.

Die einzigen Au­gen­zeu­g*­in­nen sind die Po­li­zis­t*in­nen

In der Unterkunft habe man aber keinen Arzt gesehen, sagt Hashim. Der zuständige Landkreis Stade will sich mit Verweis auf Sozialdatenschutz, beziehungsweise dem Schutz von Privatgeheimnissen nicht dazu äußern. Die Anzeige liege beim Landkreis nicht vor. „Wir bitten um Verständnis, dass im laufenden Verfahren keine aktuelle Stellungnahme erfolgen wird“, so der Pressesprecher des Landkreises.

Gegenüber der Kreiszeitung Wochenblatt sagte ein Sprecher des Landkreises im Dezember: „Selbstverständlich wird reflektiert, ob der Fall rückblickend ein anderes Vorgehen erfordert hätte. Dies scheint nach jetzigem Stand aber nicht so zu sein.“ Diese Aussage erzürnt Färber. Ohne juristische Prüfung zu sagen, alles sei richtig gelaufen, sei einer demokratischen Aufarbeitung und eines Rechtsstaats unwürdig.

Dreimal kam die Polizei am 3. Oktober zur Geflüchtetenunterkunft „Am Sande“. Beim ersten Einsatz hätten die Be­am­t*in­nen zunächst nur das Gespräch gesucht, beim zweiten Mal begleitete Ibrahim sie aufs Revier, erinnern sich seine Mitbewohner. Der habe selbst angeboten, sich in Gewahrsam zu begeben, sagt der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Stade. In Absprache mit einem Gericht habe man sich aber dagegen entschieden, ihn in eine Klinik einzuweisen. Ob die Kontaktaufnahme mit dem sozial­psychiatrischen Dienst der Polizei bekannt war, lässt die Staatsanwaltschaft offen.

Zurück in der Unterkunft eskalierte die Lage erneut. Die Mitbewohner riefen wieder die Polizei. Als die eintraf, soll Ibrahim die Be­­am­t*in­nen im ersten Stock mit einem Messer bedroht haben. Die einzigen Au­gen­zeu­g*­in­nen sind die Polizist*innen.

Anschließend fielen mehrere Schüsse. Eine Kugel verfehlte Ibrahims Mitbewohner, der sich in seinem Zimmer versteckte, nur knapp. Ibrahim selbst verstarb später im Krankenhaus. Die Unterkunft blieb nach dem Tod Ibrahims über eine Woche gesperrt. Erst nach mehreren Tagen kümmerte sich die Gemeinde um einen Ersatz für die anderen Bewohner. Es dauerte auch mehrere Tage, bis sie ein Gespräch mit einem Psychologen führen konnten.

Der Fall mache deutlich, dass Po­li­zis­t*in­nen dringend im Umgang mit psychisch erkrankten Geflüchteten geschult werden müssen, schreibt das Netzwerk für traumatisierte Geflüchtete in Niedersachsen in einer Pressemitteilung. Fachärzt*innen, besonders Psycholog*innen, müssten bei entsprechenden Einsätzen hinzugezogen werden.

In Deutschland hatte Kamal Ibrahim nur wenige Verwandte

Besondere Aufmerksamkeit erregt der Fall auch, weil im Landkreis Stade 2019 der Geflüchtete Aman Alizada von Po­li­zis­t*in­nen erschossen wurde. Auch Alizada war wohl in einem psychischen Ausnahmezustand und soll Be­am­t*in­nen angegriffen haben. Ein kriminologisches Gutachten der Verteidigung nährte Zweifel an der Darstellung der Polizei, es habe sich um Notwehr gehandelt. Eine Beschwerde auf Wiederaufnahme der Ermittlungen scheiterte. Personelle Überschneidungen der beiden Fälle, so die Staatsanwaltschaft Stade, gebe es keine. Der Bezug zum aktuellen Fall sei aber sofort da gewesen.

Die Familie von Kamal Ibrahim, die zum größten Teil im Sudan lebt, bemüht sich ebenfalls um juristische Aufklärung und hat mittlerweile eine Anwältin beauftragt. Das war mit einigen bürokratischen Hürden verbunden. Daniela Hödl aus Hamburg vertritt die Familie nun seit Kurzem. Sie warte momentan auf Akteneinsicht und werde dann weitere juristische Schritte prüfen, so Hödl gegenüber der taz. Die Anzeige, die nun gegen Polizei, Polizeiführung, Gemeinde und Landkreis gestellt wurde, ist unabhängig von Hödls Arbeit.

In Deutschland hatte Kamal Ibrahim nur wenige Verwandte, die ihn hätten unterstützen können. Sein Cousin wohnt in Göttingen. Er erzählt, er habe erst vier Tage nach Ibrahims Tod von den Ereignissen erfahren. Seine Geschichte sei wie die vieler junger Männer gewesen, erzählt der Cousin, der Hassan genannt wird, am Telefon. Ibrahim sei aus Manaf, aus dem Sudan, nach Europa gekommen: „Er träumte davon, ein glückliches Leben ohne Probleme zu führen. Dafür verließ er seine Familie, seine Freunde und alle, die ihn liebten.“ Im Sudan habe man den Tod erwarten können, nun sei er auch hierher gekommen.

Der Cousin beteiligte sich im Oktober auch an einer Demonstration auf dem Rathausplatz in Stade. Etwa hundert Menschen forderten dort eine Aufklärung des Falls Kamal Ibrahim und Veränderungen bei der Polizei. Die meisten Teil­neh­me­r*in­nen waren Teil der sudanesischen Community. Mehrere Pas­san­t*in­nen machten Affenlaute, riefen rassistische Beleidigungen und pöbelten vom Rand.

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1 Kommentar

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  • Da wird eine Kommune über die psychische Erkrankung eines Menschen informiert. Das ist doch dann zuerst einmal eine Angelegenheit des Gesundheitsamtes, das den Amtsärztin oder den Amtsarzt einzuschalten hat. Nach der medizinischen Diagnose wird in Fällen der Eigen- oder Fremdgefährdung unter Beteiligung des zuständigen Amtsgerichts mit Hilfe des Ordnungsamtes die Einweisung in eine Psychiatrie verfügt. Im vorliegenden Fall erfolgt unter Ausschaltung der Sozialmedizin ein polizeilicher Einsatz, beim dem am Ende ein öffentlich psychisch kranker Mensch Tod erschossen wird. Als Leser bin ich einigermaßen sprachlos wie die behördliche Aufklärung dieses beängstingenden Falles bisher vonstatten ging. Dabei sollte der Polizei als am Tathergang beteiligter Behörde die Aufklärung entzogen werden. Eigentlich dürfte erwartet werden, dass der Landtag einen Untersuchungsausschuss dazu einrichtet. Der Vorgang bedarf der lückenlosen Aufklärung. Deshalb ist den Beschwerdeführer*innen zu danken. Die taz sollte journalistisch unbedingt dem Fall und seiner Aufarbeitung weiterhin die erforderliche Aufmerksamkeit widmen.