Tipps bei Nachrichtenflut: Gegen den „Tagesschau-Koller“
Etwas Schräges zu machen, soll gut sein, wenn man sich von Krieg und Krisen überfordert fühlt. Unsere Autorin versucht Qi-Gong zu Harry-Potter-Musik.
A ls ich an jenem Abend zum Tempelhofer Feld loszog, die AirPods mit dem Soundtrack von Harry Potter in den Ohren, kam ich mir vor wie eine Pionierin. Ich spazierte zum kleinen Wäldchen und suchte mir einen sichtgeschützten Platz.
Zum Harry-Potter-Prolog mit Glockenspielklang begann ich meine Qi-Gong-Übungen. Man hebt und senkt die Arme und lässt sie langsam kreisen. Ich hatte das kürzlich in einem Workshop gelernt. Es war magisch, die Dämmerung senkte sich. Hier war ich, eine wunderliche Alte mit merkwürdigen Verrenkungen. Und genau das wollte ich sein.
„Mach einfach mal was Schräges“, hatte mir eine Psychologin geraten, die ich fragte, was sie den Leuten so empfehle, die sich überfordert und geängstigt fühlen von Krieg und Krisen, die einen „Tagesschau-Koller“ haben. Die Probleme haben, die Orientierung zu behalten, auch weil sich privat neue Gräben auftun und gute alte Bekannte plötzlich überraschende Sachen sagen, für oder gegen Israel im Gazastreifen, die Palästinenser-Demos, die Flüchtlinge, für oder gegen die Zwangsrekrutierung in der Ukraine, gegen die „Linken“ im Allgemeinen. Es liegt vieles übereinander.
Eine wunderliche Alte
Was „Schräges“ zu machen, soll jedenfalls gut sein. Einer neuen Studie habe ich entnommen, dass es gegen Demenz im Alter hilft, wenn man „offen ist für neue Erfahrungen“. Damit bahnt man neue Wege im Hirn.
„Eisbaden, Kaltschwimmen“ zum Beispiel, das sei eine neue Erfahrung, sagt Freundin Hille. Sie hat sich ein Set für Kaltschwimmer im See besorgt, dazu gehören eine Neopren-Kappe, Neopren-Handschuhe und -Socken. Kopf, Hände und Füße müssten gegen die Kälte geschützt sein, dann sei alles andere kein Problem und die körperliche Reaktion auf die Kälte sei ein Flash, schwärmte Hille. Ich bin auch einmal tapfer bei 15 Grad in den See gestiegen, die Kälte biss mir in die Unterschenkel wie eine Horde Piranhas. Das ist nichts für mich.
Beim Qi Gong bin ich jetzt bei der fünften Übung: auf der Wolke sitzend die Affen vertreiben. Man rollt und schiebt imaginäre Affen mal mit dem rechten, dann wieder mit dem linken Arm von sich. Dazu pathetische Streicher aus dem Harry-Potter-Soundtrack. „Was Schräges“ zu machen, muss nicht teuer sein.
Bei 15 Grad in den See
Mein Bekannter K. zum Beispiel spaziert ab und an im Dunkeln alleine durch den langen, dicht befahrenen und versifften Tunnel unter einer S- und Autobahnbrücke in Berlin-Tempelhof. Der Lärm im Boelcke-Tunnel ist ohrenbetäubend, der Abgasgestank auch. Kaum ein Fußgänger läuft da durch. „Es ist so was wie schnüffeln“, gestand mir K., „es wirkt antidepressiv.“ Im Supermarkt kauft er ein Milky Way und futtert dieses nach dem Tunnel auf dem Rückweg, wegen der Kindheitserinnerungen, trotz seines Diabetes.
Vielleicht ist es ja so mit uns westdeutschen Babyboomern: Wir sind in Wohlstand und Frieden aufgewachsen. Ich habe früher geglaubt, irgendwann wird sich die ganze Welt so auf den Weg machen, mit Demokratie und Menschenrechten und blühender Wirtschaft. Aber nein, die Welt hat offenbar anderes vor.
Aus den AirPods klingt wieder das Glockenspiel mit dem Harry-Potter-Thema. Ich beruhige das „Dantian“, meine Energiequelle, indem ich die Hände verschränke und vor den Bauch nehme. Die Welt ist unheimlich. Doch es gibt Wege, sich in der Unheimlichkeit zu entspannen.
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