Tiere im Ukrainekrieg: Die Katzen von Butscha
In der Ukraine helfen Tierschützer:innen zurückgelassenen Katzen, Hunden, Bären. Ihre Arbeit hilft ihnen auch, mit der eigenen Ohnmacht klarzukommen.
O lha Horbatsch ist fast den ganzen Tag bei den Katzen. Die Wohnung im Erdgeschoss in einem der vielen Plattenbauten von Sychiw, einem Viertel der westukrainischen Stadt Lwiw, wurde eigens für die Tiere angemietet; durch den Hausflur wabert der intensive Geruch von Katzenfutter. Hier leben 90 Tiere, es miaut aus allen Ecken. Dauernd fällt irgendetwas um, man wird von jeder Seite angeschmust. Auf dem Tisch, dem Sofa, sogar auf dem Fernseher: überall Katzen, in allen Größen und Farben.
Die meisten kommen aus den Kriegsgebieten – Mykolajiw, Nikopol, Butscha – und haben Schlimmes erlebt. Eine schwarze Katze kann nicht gehen, sie wurde angeschossen. Viele laufen frei in der Wohnung herum und vertragen sich meistens; andere sitzen in Käfigen, bis sie gegen Tollwut oder andere Krankheiten geimpft sind. Wenn sie Glück haben, werden sie an ein neues Zuhause vermittelt, nach Polen oder auch Deutschland.
„Das ist das oberste Ziel“, sagt Olha Horbatsch, die vor dem Krieg eine Zoohandlung betrieb. Jetzt kann sie sich ihr ehrenamtliches Tierschutz-Engagement nur leisten, weil ihr Mann ausreichend verdient. Sie wirkt nachdenklich, aber auch sehr motiviert. Horbatsch würde auch der Armee helfen, sagt sie – aber sie kenne sich eben mit Tieren besser aus. Ihnen zu helfen, ist ihr Ding, das merkt man, wenn man sie mit den Katzen sieht. Zusammen mit anderen Helfer:innen hat Horbatsch seit Kriegsbeginn schon über tausend Katzen retten und vermitteln können.
Wenn Bomben einschlagen, leiden auch Tiere. Das betrifft sowohl wilde Tiere als auch solche, die auch in Friedenszeiten stark vom Menschen abhängig sind, nämlich Nutz- und Haustiere. Nachdem Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, gingen auch Bilder um die Welt, wie flüchtende Ukrainer:innen an Bahnhöfen mit Katzenboxen oder kleinen Hunden im Arm an der Grenze zu Polen standen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Schicksale nicht gegeneinander ausspielen
Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber sicher ist: Nicht alle konnten ihre Tiere mitnehmen, zumal die Ausfuhrkontrollen inzwischen strikter sind. Zwar werden Kühe, Schweine oder Hühner so gut es geht weiter versorgt – schließlich ernähren sich viele Menschen von ihnen –, aber vor allem Haustiere leben in der stark zerstörten Ostukraine jetzt auf der Straße oder in Ruinen. Sie sind auf sich allein gestellt, hungern und sind auch von Infektionen bedroht.
Tierschützer und Tierschützerinnen wie Olha Horbatsch – die meisten sind Frauen und arbeiten unter äußerst prekären Bedingungen – kümmern sich um Katzen, Hunde, Bären oder Vögel. Sie verteilen Futter, holen Tiere aus den Kriegsgebieten oder versorgen sie in improvisierten Tierheimen. Und alle, mit denen die wochentaz sprach, finden: Man soll menschliches Schicksal nicht gegen das der Tiere ausspielen.
Horbatsch zum Beispiel hat auch Geflüchtete bei sich zuhause aufgenommen, sieht aber ihre Kompetenzen vor allem im Bereich Katzen. Für viele Menschen sei es eine große Entlastung, dass sich jemand um ihre geliebten Haustiere kümmert, wenn sie an die Front müssten oder das Land verließen.
Das kann sich Claus-Christian Carbon, Professor für Allgemeine Psychologie an der Universität Bamberg, sehr gut vorstellen. Die Bindung von Menschen zu ihren Haustieren sei nicht zu unterschätzen. Allerdings glaubt er, dass die Pflege der Tiere für jene, die sie unter Obhut nehmen, mindestens genauso wichtig ist. Auch wenn die Ressourcen im Krieg begrenzt seien und eine Wohnung voller Tiere einerseits Ballast sein mag, überwiege etwas anderes: „Wer eine Aufgabe hat, hat ein Ziel; wer ein Ziel hat, hält besser durch.“
Schließlich seien die Menschen in einer wirklich bedrohlichen Lage: „Es ist gefährlich, und sie wissen nicht, wie es weitergeht.“ Ihnen sei bewusst, wie viele Menschen die Ukraine verlassen haben, und sie fragten sich wahrscheinlich auch, ob sie fliehen sollten. Sich ein solches Ziel zu suchen, sei dann eine sehr erfolgversprechende Strategie des Umgangs, die psychisch stabilisiert, sagt Carbon. „Wenn man eine gute Begründung hat zu bleiben, dann muss man nicht mehr zaudern.“
Ukrainer:innen, die sich jetzt um Tiere kümmern, kämen besser mit ihrer Ohnmacht klar, glaubt Carbon. „Krieg bedeutet Autonomieverlust, man wird zum Spielball“, sagt er. „Indem man ein Tier versorgt, überwindet man das zumindest kurzzeitig und wird wieder zum Akteur.“ Das habe gerade bei Geflüchteten, die fast alles verloren haben, eine wichtige psychohygienische Funktion. Daher solle man ihnen nicht etwa einreden, dass sie ihr Tier zurücklassen sollen. Manchmal sei es im Gegenteil wesentlich rationaler und nachhaltiger, Menschen ihre Tiere mitnehmen zu lassen.
Manchmal aber, wenn die Katze, der Hund oder ein anderes Haustier zu groß ist oder die Mittel zu begrenzt, muss es zurückbleiben. „Eine gruselige Vorstellung“, findet Carbon. Man denke vermutlich die ganze Zeit daran, wie es ihm gehe, was sehr belastend sein kann.
Olha Horbatsch jedenfalls gibt ihr Bestes für die Tiere, die ihre Landsleute bei ihr gelassen haben. Doch manche Tiere können wegen ihrer Größe oder Lebensweise nicht in einer Wohnung leben. Sie müssen in ein Tierheim. Zum Beispiel in jenes, in dem Natalia Kuznjezowa arbeitet, etwas außerhalb von Lwiw. Auf dem Gelände am Waldrand leben rund 400 Hunde.
Vor der russischen Invasion waren es 280, und schon da war es überfüllt. Die Finanzierung durch die Stadt reiche nur für sieben Monate im Jahr, erzählt Kuznjezowa. Der Fehlbetrag werde mehr schlecht als recht über Spenden abgedeckt. Eigentlich sei sie Unternehmerin und handele mit Auto-Ersatzteilen, am liebsten aber würde sie ausschließlich hier arbeiten.
Die meisten der hier untergebrachten Hunde sind mittelgroß bis groß – vielleicht, weil sich die kleinen bei einer Flucht besser mitnehmen lassen. Bringen die jungen freiwilligen Helfer:innen neue Hunde ins Gehege, drehen deren Artgenossen durch: Noch bevor sich das Tor öffnet, bellen Dutzende Hunde. Als eine Frau mit einem Tier im Arm eintritt, steigert sich das Gebell zu großem Getöse. Die Tiere rotten sich zusammen, knurren, fletschen die Zähne und kommen immer näher.
Damit sich die Hunde untereinander nicht gefährlich werden, dürfen sie nur abwechselnd in größeren Gruppen frei herumlaufen und im Dreck scharren. Aus vielen der Verschläge dringt Jaulen. Hund Michail – sein Besitzer ist an der Front – sieht aus wie eine Mischung aus Hyäne und Wolf. In seinem Käfig läuft er stets unruhig im Kreis, springt am Zaun hoch, wedelt aber noch mit dem Schwanz. Ein stolzer Schäferhund aus Nikopol, der von seinen Besitzer:innen zurückgelassen werden musste, ist krank. Er hat Verdauungsprobleme, kratzt am Gitter und verschmiert einen riesigen Haufen seines eigenen Kots. Es stinkt erbärmlich. Aber gäbe es solche Hilfsprojekte nicht, wären die Tiere noch schlechter dran.
Tiere können auf ganz verschiedene Weise von Krieg betroffen sein. Wilde Tiere sind oft in der Lage, aus den umkämpften Gebieten zu fliehen; in manchen Gegenden werden sie sogar weniger gestört als sonst. Wenn etwa keine Landwirtschaft mehr betrieben wird, können Insekten wegen der fehlenden Pestizide profitieren. Vor allem größere Tiere können aber auch verstärkt gejagt werden, etwa weil die Versorgungslage schlecht ist und das Essen knapp wird; außerdem lassen sich Naturschutzmaßnahmen meist schlechter durchsetzen.
„Alle möglichen Tiere sind stille Opfer des Krieges in der Ukraine“, sagt Natalia Gozak, die von Kyjiw aus als Wildtierretterin für den Internationalen Tierschutzfonds (IFAW) arbeitet. Die aktuellen Verluste seien jedoch schwer zu beziffern, weil Wissenschaftler:innen nicht in der Lage seien, die entsprechenden Gebiete zu untersuchen – vor allem, wenn sie umkämpft oder vermint sind. Exakte Daten gebe es daher wohl erst zu einem späteren Zeitpunkt. „Aber wir wissen, dass 20 Prozent der Schutzgebiete von kriegsbedingter Zerstörung betroffen sind“, sagt Gozak. „Auch die Habitate seltener endemischer Arten, etwa im Bereich des zerstörten Kachowkaer Stausees.“
Auch einige der rund 30 Braunbären der Rettungsstation Domazhyr sind Opfer des Kriegs und, wie die meisten Hunde und Katzen, vollkommen vom Menschen abhängig. Die Station befindet sich etwa 30 Kilometer westlich von Lwiw und wird von der österreichischen NGO „Four Paws“ betrieben. Das 20 Hektar große Gelände im Wald, umgeben und durchzogen von großen Metallzäunen, gab es schon vor dem Krieg. Aber auch hier kamen zuletzt neue Bewohner hinzu.
Die meisten Bären sind in Käfigen aufgewachsen, bevor sie hier einzogen, als Attraktion von Hotelrestaurants zum Beispiel. Was übrig bleibt, sind traumatisierte und verstörte Tiere. Besonders traurig ist der Anblick ehemaliger Tanzbären, die jetzt einsam und verloren – ohne Publikum – die sinnlosen Bewegungen wiederholen, die ihnen andressiert wurden. Die Tiere – viele von ihnen haben wegen früherer Fehlernährung Diabetes – könnten in freier Wildbahn nicht überleben.
Claus-Christian Carbon, Psychologieprofessor
Teilweise kennen sie nicht einmal den Geruch von Erde oder das Gefühl von frischem Wind im Fell, wenn sie hier ankommen. Bei manchen dauert es ein Jahr, bis sie sich trauen, mal ein bisschen in den Bäumen zu klettern, erzählt Olha Fedoriv, Mitarbeiterin der Einrichtung. Mit einem der Bären spricht sie regelmäßig, vertraut ihm ihre Sorgen und Geheimnisse an. „Er heißt Potap, ist ein sehr geduldiger Zuhörer und weiß alles über mich“, sagt sie scherzhaft.
Ein anderer Bär trägt den Namen Bachmut, er ist nach der gleichnamigen Stadt im Donezk-Gebiet benannt. Mit ihm kann Fedoriv nicht sprechen, er kommt noch nicht einmal aus seiner Hütte heraus. Sie kann nur ahnen, was ihm widerfahren ist: Man fand ihn an ein Haus gekettet, dessen Dach weggebombt worden war.
Das Tier war vollkommen verängstigt und ausgehungert; jetzt vertraut es nur ganz wenigen Pflegern. Mit zunächst kleinen Portionen gekochten Futters päppelten sie den Bären auf, um seinen Magen nicht zu überfordern. Langsam werden die Portionen größer, aber es wird noch lange dauern, bis Bachmut sich einigermaßen erholt hat.
Zu Beginn des Krieges lebten noch sieben andere Bären hier, sie waren unter Beschuss aus der Region Kyjiw hertransportiert worden, als auch viele Menschen aus der Hauptstadt fliehen mussten. Drei davon wohnen jetzt in Deutschland, beispielsweise im Bärenpark Worbis, die anderen konnten wieder zurück. Die Menschen in der Ukraine hoffen, dass solche Evakuierungsaktionen nicht mehr nötig sein werden.
Noch aber ist der Krieg nicht vorbei, und Wildtierretterin Natalia Gozak hat für die Evakuierungen aus den umkämpften Gebieten eine wichtige Beobachtung gemacht: „Haustiere spielen eine maßgebliche Rolle bei Entscheidungen der Zivilbevölkerung, ob sie gehen oder bleiben“. Je mehr Tiere die Leute besäßen und je weniger Einkommen sie hätten, desto weniger wahrscheinlich sei es, dass sie die gefährlichen Gebiete verlassen. „Deswegen sind Evakuierungspläne, denen die Komponente der Tierrettung fehlt, weniger effektiv“, sagt Gozak.
In einer akuten Notsituation gehe zwar immer das Menschenleben vor, sagt Psychologieprofessor Claus-Christian Carbon. Aber die Entscheidung, ob sie ein Tier mitnehmen oder nicht, träfen Menschen selbst in schwierigsten Situationen nicht nach Kriterien der rationalen Nutzenmaximierung, die ohnehin eine psychologisch naive Illusion sei. Stattdessen zeige sich das Bedürfnis, Tiere nicht zurückzulassen, oder sogar zusätzlich welche zu retten.
Manche Haustiere haben kein Fell, sondern Federn. Sie sind ein Fall für den Ornithologen Viktor Shelvinskyi von der Nationalen Akademie der Wissenschaften mit Sitz in Kyiw. Dass er auch für die Gestaltung des Naturkundemuseums von Lwiw zuständig ist, sieht man seinem Garten an.
In Kozhychi am Rande Lwiws gelegen, erinnert er an das verwunschene Gelände eines Avantgarde-Festivals: hier eine Hängematte mit einem Mobilé aus Austernschalen darüber, dort ein Schaukasten mit Vogelfedern, und da drüben eine selbst gebaute Hütte mit einem großen, in den Fußboden eingelassenen Aquarium. Das Areal ist nicht groß, doch einmal betreten, wirkt es endlos. In jeder freien Ecke befinden sich kleine oder größere Volieren, dazwischen stolzieren weiße und grün schillernde Pfauen.
Seit vergangenem Jahr leben hier nicht mehr nur einheimische Vögel, sondern auch bunte Papageien. Geflüchtete aus dem Osten des Landes hatten von Shelvinskyis Arbeit gehört und brachten sie her: Halsbandsittiche, einen Graupapagei, Salomon-Kakadus. Im Krieg, sagt der studierte Ornithologe, hätten sie im Grunde die gleichen Probleme wie Menschen: Unsicherheit, Hunger, Angst.
Bei ihm jedenfalls sind alle willkommen: In den ersten Kriegsmonaten nahm auch Shelvinskyi geflüchtete Menschen auf sowie deren Hunde und Katzen. Diese seien inzwischen weitergezogen nach Westeuropa oder in andere halbwegs sichere Regionen der Ukraine. Geblieben aber sind ihm die Vögel.
Natalia Gozak, Tierretterin
Shelvinskyi liebt Vögel, seit seiner Kindheit. Wenn er über die Bewohner der Volieren in seinem Garten redet, spürt man seine Begeisterung. Er kann sogar pfeifen wie ein Vogel. Schon seit Jahren kümmert er sich neben seiner eigentlichen Arbeit um verletzte Tiere, die er findet oder die Leute ihm bringen: Elstern, Mäusebussarde, Störche. Oft haben sie gebrochene Beine oder Flügel, können aber nach einer Weile in Shelvinskyis Obhut wieder fliegen. Er lässt sie dann frei und genießt diesen Moment. Manche Vögel kommen weiterhin ab und zu vorbei – um sich füttern zu lassen oder einfach auf einen Besuch.
Schon seit vielen Jahren kursiert Shelvinskyis Nummer in den sozialen Medien. Besorgte Menschen rufen ihn an, wenn sie zum Beispiel in ihrem Schuppen eine verschreckte Eule finden. Er stellt dann fachkundige Fragen, etwa: ‚Wie verhält sich das Tier, wie sehen seine Pupillen aus?‘ – „In 90 Prozent solcher Fälle muss man gar nichts tun“, sagt er, „ich erkläre dann, dass sich die Eule nur vor Regen versteckt hat und alleine klarkommt.“
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs aber wird Shelvinskyi deutlich häufiger kontaktiert, im März vergangenen Jahres waren es oft 15 Anrufe am Tag. So viele Vögel wie jetzt musste er noch nie versorgen: 286 Individuen aus 53 verschiedenen Arten. Darunter ist eine Rohrweihe aus Saporischschja; sie hat sich den linken Flügel gebrochen. Die drei Steinkäuze aus Mariupol sind schon wieder gesund, müssen aber noch beringt werden, bevor sie losfliegen dürfen.
Shelvinskyi berät sogar Ukrainer, die aktiv im Krieg kämpfen: Immer wieder melden sich Menschen aus den umkämpften Gebieten, wenn sie verwundete Vögel finden. Mit einem Soldaten, der an der Front nebenbei einen verwundeten Kaiseradler versorgt, telefoniert er regelmäßig und gibt ihm Tipps: wie man den Bruch verbindet oder dass man dem Adler notfalls statt Fleisch rohes Hühnerei oder Insekten zu fressen geben kann. Auch Wildtierretterin Natalia Gozak kennt viele Fälle, in denen Soldaten an der Front sich um Katzen, Hunde, Mäuse, Wildschweine, Tigeriltisse oder andere Tiere kümmern. „Sie tun das mit größter Empathie; es baut Stress ab und gibt ihnen ein Stück Normalität zurück“, sagt sie.
Genau deswegen sei es in Kriegs- und Krisengebieten auch so wichtig, Theater oder Cafés so früh wie möglich wieder zu öffnen, sagt der Psychologe Claus-Christian Carbon. Man brauche eine gewisse Normalität, etwas, woran man sich festhalten kann. In ähnlicher Weise erinnerten Tiere immer wieder an eine positive, zivile Welt, die gerade verloren scheint.
„Tiere lösen Freude aus, und daran mangelt es im Krieg“, sagt er. Schließlich seien sie keine Gegenstände, sondern unersetzliche Lebewesen, die auch resonieren. Man bekomme also gewissermaßen etwas von ihnen zurück: „Tiere, die man versorgt, senden permanent Signale, dass es ihnen gefällt, zum Beispiel in Form von Schnurren“, sagt Carbon.
Auch die körperliche Nähe sei nicht zu unterschätzen. An der Front habe man normalerweise nur Nähe zu Kameraden. Jene zu einem Tier sei frei gewählt und öffne somit einen privaten emotionalen Raum. Gerade auch bei Geflüchteten, die oft auch zu wenig Privatsphäre haben, sei das wichtig.
„Können sie ihre Tiere nicht mitnehmen, ist es aber natürlich immer noch besser, wenn sich jemand anderes kümmern kann“, sagt Carbon. Dann fehle zwar unter anderem die körperliche Komponente, trotzdem werde gewissermaßen ein Stück verlorene Heimat bewahrt, und es bleibe die Hoffnung auf ein Wiedersehen.
Eigentlich wollte Vogelflüsterer Viktor Shelvinskyi nie exotische Tiere halten, doch jetzt ist er froh, dass er mit seiner besonderen Expertise nützlich sein kann – nicht zuletzt Geflüchteten. Im Frühjahr 2022 brachten ihm viele Menschen auf der Flucht ihre Papageien; auch der Kyjiwer Zoo schickte Dutzende tropische Tauben und Papageien, die dort nicht mehr sicher waren. Die großen roten Aras leben inzwischen wieder in Kyjiw, manche Vögel sind weiter nach Polen gereist. Aber die anderen Papageien bleiben bei Shelvinskyi.
Für die bunten Vögel hat er extra ein beheizbares Winterquartier gebaut, aus alten Fenstern und mit einer Dämmung aus Mineralwolle, die er in Bauabfällen fand. Das mag improvisiert sein, erfüllt aber seinen Zweck und fügt sich auch optisch gut in seinen ausgefallenen Garten ein. Das Polycarbonat, ein durchsichtiger Kunststoff fürs Dach, wurde durch Spenden finanziert, die die ukrainische Tierschutz-NGO UAnimals ihm zu sammeln half.
Eine der neuen Bewohnerinnen des Papageien-Hauses ist Jagoda, ein blaurotes Salomon-Edelpapageien-Weibchen. Seine Besitzerin Anna, eine Übersetzerin aus Lwiw, zog mit ihren Kindern wegen der russischen Invasion nach Brüssel. Sie weinte, als sie Jagoda zurückließen. Aber sie konnten das Tier nicht mitnehmen – zu aufwändig ist die Pflege großer sensibler Papageien, zu kompliziert der Transport.
Sie brachten Jagoda zu Shelvinskyi, den sie über Freunde kannten – und baten ihn, in Kontakt zu bleiben, bis sie eines Tages zurückkehren und Jagoda wieder selbst versorgen können. Jetzt schickt er ihnen per Viber-Messenger regelmäßig Videos, Fotos oder Tonaufnahmen, auf denen ihr Haustier „Hallo, Jagoda“ plappert. „Das ist ein bisschen wie Telefonsex“, scherzt Shelvinskyi. Für die Familie sei das aber ganz wichtig und helfe ihr, mit der schlimmen Situation klarzukommen.
Geld möchte Shelvinskyi für solche Dienste nicht, zumal viele sich das gar nicht leisten könnten. Auch die Führungen, die er für Schulgruppen geflüchteter Kinder aus der Ostukraine anbietet, sind kostenlos. Sie finden in seinem Garten statt; er zeigt dann echte Vogelnester, unterschiedliche Tierschädel aus seiner Sammlung und erzählt, wie man einheimische Tierarten unterscheiden kann.
Das Grün seines Gartens, die Einblicke ins Leben der Tiere und überhaupt die Nähe zur Natur tue seinen jungen Besuchern und Besucherinnen gut, sagt Shelvinskyi. Er sieht den teils durch den Krieg traumatisierten Kindern an, wie sie sich hier zwischen den Vögeln plötzlich entspannen. Das bestätigt den Vogelexperten in seiner Arbeit und dem Satz, der für ihn die Grundlage davon ist: Indem du Tieren hilfst, hilfst du auch Menschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?