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Tiefer ins Loch hinein

Die postdramatische Performance-Boygroup Showcase Beat Le Mot nimmt Gäste mit auf eine Reise zur Unterseite der Stadt. Bei „Dreckiges Neon Babylon“ geht es nicht darum, was wir sehen, sondern darum, was wir nicht sehen

„Dreckiges Neon Babylon“ von Showcase Beat Le Mots Foto: Alexej Tchernyi

Von Fabian Schroer

Es ist dunkel. So dunkel, dass der Raum sich auflöst. Der Sinn für Entfernung schwindet. Gehör und Geruchssinn versuchen langsam die Sehkraft zu ersetzen. Modriger Dunst steigt in die Nase, Feuchtigkeit legt sich auf die Oberseiten der Hände. Das Knirschen des rauen Untergrunds unter den eigenen Füßen wirkt laut und ganz nah. Der Knall einer zuschlagenden Tür erschallt hinter dem eigenen Rücken. Eine winzige rote Lampe leuchtet auf und plötzlich kehrt die Sehkraft zurück.

All dies passiert bei „Dreckiges Neon Babylon“, einer Produktion des Performance-Kollektivs Showcase Beat Le Mot. In den tiefen Kellern unter der Kartbahn auf dem Gelände der alten Kindlbrauerei in Neukölln werden Gäste von den vier Performern auf eine Reise in den Untergrund mitgenommen. In einem modrigen Labyrinth aus Gewölben und Treppen durchqueren Kleingruppen verschiedene Pforten, hinter denen die Wahrnehmung auf die Probe gestellt wird.

Showcase Beat Le Mot machen alles von Kindertheater bis politischer Performance. Das Kollektiv – Nikola Duric, Dariusz Kostyra, Thorsten Eibeler und Veit Sprenger – gründete sich 1997 aus den Angewandten Theaterwissenschaften der Universität in Gießen heraus. Seitdem kreieren die vier Jungs verschiedene Showformate. Zum Beispiel im Berliner Hebbel am Ufer, bei der Expo 2000 in Hannover oder beim Steirischen Herbst in Graz. Außerdem produzierten sie drei Musikvideos mit der Hamburger Indieband Kante.

Die Idee für Dreckiges Neon Babylon entstand vor dem Hintergrund einer Produktion von 2014. Ständig auf der Suche nach neuen Theaterräumen baute das Kollektiv damals in Zusammenarbeit mit dem Architekten Martin Kaltwasser auf dem Gelände des Holzmarktes den lichtdurchfluteten „Ding Dong Dom“, eine Spielstätte, die nur aus Fenstern bestand. Der Keller mit seiner vollkommenen Dunkelheit bildet nun das Gegenstück dazu.

Für Showcase-Mitglied Veit Sprenger sind Keller Orte, an denen man einen der Sinne abgibt. „Mich hat ein bisschen frustriert, dass während der Coronapandemie und Lockdowns fürs Theater immer nur nach Lösungen gesucht wurde, die irgendwas mit Videostreaming zu tun hatten“, sagt er. Sprenger glaubt, dass sich Theater nicht unproblematisch rein visuell abbilden lässt. Dreckiges Neon Babylon konzentriert sich deshalb weitgehend auf die Aspekte von Theater, welche ohne den Gesichtssinn auskommen. Das Stück ist damit ein Kommentar auf Kulturprogramme in der Coronazeit und widersetzt sich – durch die Unmöglichkeit bei völliger Finsternis zu filmen – jeglicher filmischer Reproduktion.

Bei Dreckiges Neon Babylon geht es um das, was wir nicht sehen. Sobald das Sehvermögen erlischt, beginnt das Kopfkino. Doch dieses kann täuschen. Hinter der immer wieder auf und abgesetzten Augenbinde erwartet man mal Licht und bekommt Dunkelheit, mal verschwimmen zwischen Neonfarben, Blitzlichtgewitter und lauter elektronischer Musik die Perspektiven. Immer wieder ertönt den Klang der Cuíca, dem brasilianischen Instrument, dass an einen Frosch oder eine Grille erinnert, und das einen am Ende, fast wie selbstverständlich, sicher aus der Finsternis führt.

Hinter der letzten Pforte wartet die Reflexion über das Erlebte. Im jetzt wieder diffus beleuchteten Raum, zwischen baumhohen Säulen, erscheinen Buchstaben und Sätze an den Wänden. „Keller machen ihr eigenes Wetter“ steht da, daneben Zitate aus Literatur und Poesie. In E. M. Forsters Science-Fiction-Kurzgeschichte „Die Maschine steht steht still“ heißt es „Wir sagen, ‚der Raum wurde eliminiert‘, dabei wurde nicht der Raum, sondern unser Gefühl für den Raum eliminiert.“

Dreckiges Neon Babylon ist ein kleines Abenteuer und lädt seine Gäste dazu ein, beinahe vergessene Teile des eigenen Wahrnehmungsapparats neu zu entdecken. Auch regt das Stück dazu an, gegen unsere Intuitionen zu handeln, was neu erlangte Freiheiten nach dem Lockdown betrifft. Mit Schmunzeln in der Stimme sagt Veit Sprenger: „Während sich alle aus Ihren Löchern hervorwagen, gehen wir noch tiefer ins Loch hinein.“ Auch das kann manchmal ratsam sein, um dem erneuten Überangebot zu entfliehen und zur Ruhe zu kommen. Neben Geisterbahn-Flair und Sinnes-Spektakel, lehrt einen der Gang durch die Finsternis jedoch besonders, zu vertrauen, sich führen zu lassen und die Kontrolle mal abzugeben.

Bis 11. September

https://showcasebeatlemot.de/dreckiges-neon-babylon

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