Thomas Ruttig über Taliban-Terror und Abschiebungen nach Afghanistan: Schöngerechnete Gefahren
Es besteht kaum die Gefahr, dass ein aus Deutschland abgeschobener afghanischer Asylbewerber sich ins Kabuler Hotel Continental verirrt. Zwar ist es nur für afghanische Verhältnisse luxuriös, aber selbst ein Essen dort wäre zu teuer für die meisten unfreiwilligen Rückkehrer.
Warum ist das von Belang? Erstens, weil am vergangenen Wochenende ein Taliban-Kommando das Hotel stürmte, mindestens 22 Menschen umbrachte, mehrheitlich und gezielt Ausländer, darunter eine Deutsche. Vier der bisher identifizierten Todesopfer sind Afghanen.
Zweitens, weil die Bundesregierung behauptet, dass Afghanen bei Angriffen der Aufständischen höchstens Kollateralschäden darstellten (sie verwendet diesen Begriff natürlich nicht).
Außerdem hat die Bundesregierung, drittens, festgelegt und den Gerichten übermittelt, dass die Quote zwischen zivilen Opfern und Gesamtbevölkerung in einer Region mindestens 1:800 betragen muss, um einen Schutzanspruch zu begründen. Laut gültiger Lageeinschätzung vom Juli 2017 liegt dieses Verhältnis in Kabul „nur“ bei 1:3.333.
Aus Sicht der Bundesregierung werden damit abgelehnte Asylsuchende in eine „hinreichend sichere“ Stadt abgeschoben – so auch die Afghanen, die heute mit der neunten deutschen Sammelabschiebung seit Dezember 2016 in Düsseldorf starten werden. Die Gefahr, dass diese Menschen in einen Anschlag geraten, hält man für gering.
Tatsächlich sterben dreimal mehr afghanische Soldaten und Polizisten als Zivilisten. Aber die deutsche Berechnungsgrundlage für Zivilopfer ist ausgesprochen dürftig, denn sie basiert auf Zahlen der UNO, die für jedes zivile Opfer drei unabhängige Quellen nennen müssen.
Ergo: Man kann von einer erheblichen Dunkelziffer ausgehen. Das zeigt auch die Einschätzung der UNO, sie sehe sich außerstande, „sichere“ Regionen zu erkennen. Doch Berlin interessiert das nicht. Die gegenwärtige und wohl auch künftige Bundesregierung handelt zynisch und verantwortungslos.
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