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Thierse über die Jammerossis"Brutalisierung nicht zulassen"

Laut einer Studie fühlen sich Ostdeutsche immer noch benachteiligt. Bundestagsvize Wolfgang Thierse findet, dass Ostdeutsche nicht zweitklassig, sondern in ihrer Selbstwahrnehmung gefangen sind.

Anscheinend doch. Bild: dpa
Interview von Philipp Gessler

taz: Herr Thierse, fast 20 Jahre nach dem Mauerfall fühlen sich noch drei Viertel der Ostdeutschen benachteiligt - der Jammerossi lebt, oder?

Bild: ap
Im Interview: 

WOLFGANG THIERSE, 65, ist Vizepräsident des Deutschen Bundestages.

Wolfgang Thierse: Na ja, aber der Befund ist nicht neu. Das ist nicht das Aufregende der Bielefelder Studie.

Finden Sie? Drei Viertel der Ostdeutschen, das ist doch eine unglaubliche Zahl.

Sich als zweitklassig zu empfinden ist für die Ostdeutschen wie ein Gefängnis ihrer Selbstbeurteilung. Sie sehen nicht, welche Chance in der gemeinsamen Demokratie steckt. Natürlich: Die Arbeitslosigkeit ist im Vergleich zum Westen doppelt so hoch in Ostdeutschland, Löhne und Gehälter sind niedriger. Die Mehrheit der ostdeutschen Rentner empfindet auch die Rente als Unrecht.

Aber gerade Rentner im Osten haben doch von der Einheit profitiert, weil sie so lange Berechnungszeiten für ihre Rente nachweisen konnten.

Das ist der Punkt: Dieses Selbstbeurteilungsklischee "Wir sind Deutsche zweiter Klasse" ist so ein starkes Korsett, dass die Tatsachen nicht mehr wahrgenommen werden, die dieses Zurücksetzungsgefühl relativieren. Beispiel Rente: Hinsichtlich der Bewertungspunkte stehen die Ostdeutschen meist schlechter da. Bezüglich der gesetzlichen Rente aber sind sie nicht schlechter dran als der Westen. Nur sehen die Rentner im Osten auch, dass die Menschen im Westen noch andere Alterseinkünfte haben.

Was hat dieses Gefühl der Benachteiligung für Folgen?

Es sind zum Teil ganz eigentümliche. So gibt es mehr Islamophobie in Ostdeutschland bei viel weniger Muslimen dort. Es gibt eine deutlich höhere Abwertung von Obdachlosen, obwohl Ostdeutsche im Schnitt mehr von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Dabei haben wir Ostdeutsche doch immer geglaubt, wir hätten ein großes Solidaritäts- und Gerechtigkeitsgefühl! An dieser Stelle können wir uns nicht mit sozialökonomischen oder sozialpsychologischen Erklärungen zufriedengeben. Hier muss man reden über die kulturelle, ideelle und moralische Vorgeschichte in Ostdeutschland - und die Nachwirkungen der DDR auch.

Trägt für diese Phänomene die Politik Verantwortung - oder eher die Gesellschaft?

Es gab ja eine massive finanzielle Solidarität mit dem Osten, die die Brutalität des wirtschaftlichen Umbruchs gemildert hat. Ich kann nicht sehen, dass die Politik an dieser Stelle mehr hätte tun können.

Die Bielefelder Forscher befürchten aber auch, die Menschenfeindlichkeit könnte mit der beginnenden Rezession weiter zunehmen. Teilen Sie diese Befürchtung?

Da die Forscher die Feindlichkeit rückbeziehen auf die ökonomischen und sozialen Bedingungen, ist diese Befürchtung zu teilen. Dort steckt die eigentliche politisch-moralische Herausforderung. Sie betrifft nicht nur die Politik, sondern auch die Zivilgesellschaft: gerade angesichts schwieriger ökonomischer Verhältnisse nicht eine Brutalisierung der menschlichen Beziehungen zuzulassen.

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7 Kommentare

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  • AH
    Anthony Hartford

    Thierse hat vollkommen Recht. Viele Leute im Osten nutzen ihre Potentiale und Möglichkeiten nicht, die sie hier haben. Selbstständigkeit? Projektmanagement? Förderanträge? Eigeninitiative? Kreativität? Fremdwörter für viele Ostdeutsche, nicht für alle, aber v.a. für Leute, die immer noch glauben, der "Staat hat für mich zu sorgen." und die gibt es übrigens auch im Westen, aber im Osten vermehrt, weil der Staat dort von 1933 bis 1990 für sie gesorgt hat!

     

    Nee, der Staat schafft im 21. Jhd. nur Bedingungen, sorgen muss gerade heute jeder für sich alleine! Wir sind doch schließlich ERWACHSEN und daher SELBSTVERANTWORTLICH! Ja, Ossis sind wie Kinder und reden von "Papa Staat", der sie zu beschützen, zu bewachen und für sie zu sorgen hat und meckern, dass der Staat ja nix tut für sie, ohne zu wissen, dass sie jetzt volljährig sind und SELBSTSTÄNDIG VERANTWORTUNG für das EIGENE LEBEN übernehmen müssen!

     

    ABER:

     

    Welche Möglichkeiten Ossis seit 18 Jahren haben, wird Ihnen aber nun widerum weder von der Gesellschaft, noch vom Staat, noch von der WIrtschaft gesagt, da sollte der Staat, die Gesellschaft oder die Wirtschaft ggf. Kampagnen starten, im Sinne von "Du, Ossi, bist AUCH Deutschland! Tu was! Du kannst was!" Wer sagt: "Ossis jammern ja nur." hat Recht, wichtig ist dann aber AUCH zu sagen, was Ossis denn SONST tun können, STATT zu JAMMERN! Das Zauberwort heißt AUFKLÄRUNG ÜBER MÖGLICHKEITEN UND POTENTIALE IN DER DEMORKRATIE!

     

    "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"

     

    Immanuel Kant

  • P
    puk

    weß´ brot ich ess, deß` lied ich sing

  • 0
    0815

    Ich habe schon lange die Nase voll von diesem ewigen, phantasielosem Wessi-Gejammer über die "Ossis".

  • A
    Axel

    "Laut einer Studie fühlen sich Ostdeutsche immer noch benachteiligt." - die bösen Ostdeutschen "fühlen" sich also immer noch benachteilig.

    Naja, wie heißt es doch so schön beim Klassiker: "Sas Sein bestimmt das Bewußtsein" - und da haben die Ostdeutschen seit 1989 wohl auch einige, konkret-materielle Gründe, nämlich nach wie vor ein Lohnniveau, daß gut ein Viertel unter Westniveau liegt, bei gleichen Preisen versteht sich. Und dann mosern die Ostdeutschen noch darüber und "fühlen" sich benachteiligt. Wie undankbar aber auch, nicht wahr Herr Thierse mit Einkommen auf hohem Westniveau. Nur am Rande, was hat eigentlich ihre Partei, die SPD, in den gut 16 Jahren für die materielle Gleichstellung und Gleichberechtigung getan, außer über Kritiker dieser Praktiken zu jammern und zu mosern?

  • NN
    no name

    Na man könnte durchaus auch sagen, der Herr Thierse ist endgültig im Westen angekommen, denn irgendwie gings ja eigentlich nur ums Geld, noch ein Spritzer Islamophobie dazu (passt eigentlich immer und überall, wer Kritik am Islam und deren Auswirkungen äußert, ist ein islamophober Hinterwäldler, möglicherweise sogar ein Ausländerfeind, und wer Kritik an der israelischen Politik über ist ein Nazi - so einfach ist das in Deutschland !), etwas Arbeitslosigkeit und Renten untergemischt, und schon ist der bitter schmeckende Cocktail "Ostdeutschland" fertig.

    Der Typ hat keine Ahnung !

     

    Wer mehr wissen will, sollte sich mal eine Rede von Herrn Thierse anhören - da geht mir regelmäßig das Messer auf wenn ich den sehe und höre, zumal der sich ja auch schon so einiges geleistet hat, z.B. wo er wider besseren Wissens seine Kompetenzen überschritt, und den Herrn Ulrich Meyer aus dem Bundestag schmiß, und ihm auch noch ein (lebenslanges) Hausverbot erteilte.

    Ernstgenommen habe ich den noch nie - der soll sich erstmal rasieren und waschen...

  • D
    Domas

    Na, da hat er wohl recht.

     

    Die Ossis haben vor der Wende gejammert und danach weiter. Man könnte hinzufügen, sie jammern jetzt auf hohem Niveau, denn wer Reisefreiheit, Redefreiheit, Meinungsfreiheit geringschätzt, hat auch ein geringes Verständnis von Demokratie.

     

    Da haben es die Leute besser im Westen, die nach 18 Jahren Mauerfall diesen überwiegend bedauern, aber verstanden haben, dass die Ideen der PDS ein Exportschlager sind.

  • A
    anke

    Jetzt hat er es den Ossis aber mal wieder so richtig gegeben, der toughe Herr Gessler! Jammerossis sind sie, alle miteinander! Sagt ja auch ihr Oberguru Thierse. Wahrscheinlich entstammt der energische Geschichtstheologe (oder ist er doch Theologiehistoriker?) einem zutiefst patri- bzw. matriarchalen Elternhaus und hat den Satz: "Nun stell dich mal nicht so an, lass endlich dein Gejammer!" dermaßen verinnerlicht, dass er noch nach Jahrzehnten jede sich bietende Gelegenheit nutzen muss, ihn an andere Weicheier weiterzureichen. Natürlich immer mit dem Zusatz: "Mir hat er auch nicht geschadet!"

     

    Dämliche Ossis aber auch! Anstatt sich dumm und dämlich zu freuen darüber und zutiefst dankbar zu sein für den Soli-Beitrag der Wessis (den diese ganz überwiegend bestimmt nicht aus christlicher Nächstenliebe zahlen, sondern weil ihnen nichts anderes übrig bleibt, wenn sie denn nicht als Steuerhinterzieher belangt werden wollen), ärgern sie sich schwarz. Darüber, dass sie, wenn sie denn überhaupt für Geld arbeiten dürfen, noch immer nicht den selben Lohn für den gleichen Job kriegen, obwohl nicht nur die Energiepreise im Osten um einiges höher sind als die im Westen. Sie pesten sich, dass das Angebot in den großen Kaufhäusern in Leipzig und Dresden noch immer um Jahre hinter dem in Hamburg oder München her hinkt, darüber, dass der Westen einen großen Teil seine ausrangierten Berufs- und Freizeitpolitiker in ihren Parlamenten endlagert und Westjuristen offenbar universell einsetzbar sind, also auch da, wo der hinterwäldlerische Ossi eigentlich eine fachliche Qualifikation erwartet hätte. Vor allem aber wurmt es sie, dass ständig toughe Geschichtstheologen glauben der Welt einreden zu müssen, der Osten wäre Dunkeldeutschland zum Quadrat, bestünde (ganz anders als der Westen) nicht aus Individuen sondern aus Masse und die Menschenliebe sei ihm sowieso nur mit dem Hammer oder der Peitsche einzugeben. Wenn das mal nicht die historische Wahrheit ist, die schon in der Bibel steht – als von Gott empfohlene Basis für eine positive Selbstwahrnehmung des liebenden Christenmenschen?!

     

    Nur gut, dass die taz im Osten ohnehin kaum Leser hat. Gut auch, dass der Westen sich nie was denkt bei irgendwas. Wie sollte das Blatt sonst sein Gejammer erklären, die Belegschaft müsse (fast) geschlossen am Hungertuche nagen, wenn nicht doch der eine oder andere potentielle Leser sich noch vor Weihnachten für ein Abonement entscheidet?