Theaterperformance in Bremen: Mit dem Horn voran
Begegnungen zwischen Mensch und Fabelwesen sind mitunter für beide herausfordernd. Chiara Bersani spielt in „Seeking Unicorns“ mit Zuschreibungen.
W as ist los mit mir? Warum verharre ich auf meinem Platz?! Da steht … Nein. Da liegt … Nein. Da kniet … Nein. Da hockt … Nein. Egal. Da ist ein Einhorn mitten im Raum, zum Greifen nah, in all seiner Würde und Anmut, wenn auch ohne Horn, Hufe und Fell. Aber wer weiß schon, wie ein Einhorn aussieht?
Irgendwann einigten sich die Menschen auf diese Pop-Version, ein makellos weißes Pferd wie aus dem Barbie-Universum mit einem auf die Stirn geklebten Horn. Je jünger oder queerer seine Fans, desto bunter geraten Mähne und Schweif. Klar scheint allen zu sein, dass wir es uns nur ausgedacht haben.
Nur manche wissen es besser, so wie ein namenloser Onkel in einem Gedicht der in die USA emigrierten Lyrikerin Lisel Mueller. In „The Exhibit“ versucht „my uncle in East Germany“, seine Verwandten davon zu überzeugen, dass das Gemälde, vor dem sie stehen, kein Fantasiewesen zeigt, sondern ein ausgestorbenes Einhorn. „He is certain power and gentleness / must have gone hand in hand“, heißt es darin, jedenfalls früher, vor dem Krieg, der ihn sein Leben lang gefangen hielt. Das Bild, auf das sich die Pulitzerpreisträgerin bezieht, könnte im Staatlichen Museum Schwerin hängen, 1572 gemalt von Maerten de Vos, für den Einhörner spitze Ohren und einen zotteligen kleinen Kopf haben sowie einen langen gekringelten Schwanz wie eine dünne Katze.
Sehnsucht nach Kontakt
Und nun, an einem Freitagabend Anfang Februar, sehe ich in Bremen ein Einhorn. Ich könnte es, mit seinem Einverständnis, vielleicht sogar berühren. Dazu müsste ich nur von meinem Stuhl aufstehen und mich ein, zwei Meter auf es zubewegen, vorsichtig, am besten auf allen Vieren, damit wir auf Augenhöhe sind und ich nicht bedrohlich wirke, denn es ist sehr klein: Stockmaß 98 Zentimeter.
Aber ich bleibe wie angewurzelt sitzen trotz Sehnsucht nach Kontakt mit dem Lebewesen, das sich auf Einladung der Schwankhalle, einem freien Theater in Bremen, in die Kunsthalle verirrt hat.
Nur wirkt es so gar nicht verirrt, sondern selbstsicher und gelöst – im Gegensatz zum Publikum, das auf drei Seiten die kleine Bühne flankiert: manche auf Stühlen und einer Tribüne, andere auf Sitzkissen. „Bitte zuerst auf den Boden setzen“, hatte die Produktionsleiterin gesagt, als wir unsere Plätze suchten. Schnell wird klar, warum. Denn das Einhorn – verkörpert von der italienischen Performance-Künstlerin Chiara Bersani – sucht unsere Nähe, kaum hat es uns gefunden. Dabei heißt das keine Stunde währende Stück „Seeking Unicorns“.
Nur in der Fantasie
Nachdem es eine Zeit zusammengekauert auf dem Boden gelegen hat, dabei hin und wieder zuckte und seufzte, erwacht es jetzt, dehnt und streckt seine kurzen Beine und langen Hände, um sich dann langsam, aber zunehmend zielstrebig auf Knien und Grundgliedern der Finger zu pochender Musik auf einen Mann aus dem Publikum zuzubewegen, der auf der Seite am Boden liegt.
Zwischendurch schaut es sich um, fixiert Einzelne von uns mit einem herausfordernden Lächeln, wirkt dabei auf mich mal wie ein zehn Monate altes Kind, das gleich mit Lust eine Decke mitsamt Geschirr vom Tisch reißen wird und einen Wimpernschlag später wie eine Frau, die im Club eine oder einen mit Blicken verführen will, mit ihr in einen Tanz einzusteigen.
Doch hier steigt niemand ein, kaum wer erwidert das entwaffnende Lächeln des Einhorns, selbst der Mann, an das es sich schmiegt, verzieht keine Miene. Es ist, als könnten wir nicht glauben, was wir sehen. Eine Performerin mit großem Kopf auf kleinem Körper, starken Armen, die so lang sind wie ihre Beine; die sich präzise und konsistent bewegt. Sie steckt in einem weißen Puschelleibchen, das gerade ihren Po bedeckt, und zeigt sich so selbstbewusst und nackt wie alle Fabelwesen, die nicht wissen, dass es sie nach der begrenzten Vorstellungskraft vieler Menschen nur in der Fantasie geben kann.
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