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Theaterfestival LessingtageNur Zufallstreffer

Die Lessingtage am Hamburger Thalia Theater finden diesmal nur online statt – ohne Kurator oder Jury. Das merkt man dem Programm an.

Szene aus „So ist es (wenn es Ihnen so scheint)“ vom Teatro Stabilo Foto: Lalla Pozzo o. Bepi Caroll

Seit zwölf Jahren finden am Thalia Theater die Lessingtage statt – ein internationales Festival, das Produktionen aus Deutschland und aller Welt zeigt. Ganz im Geiste des Aufklärers Lessing, immer um Toleranz bemüht, sollen das Abende sein, die sich mit den zentralen Fragen und Werten auseinandersetzen, die unsere Welt umtreiben. Vergangenes Jahr drehte sich alles um Klimawandel, Migration und Kolonialismus, zuvor standen Produktionen zu Krise und Aufruhr auf dem Spielplan.

Diesmal heißt das Motto „Stories from Europe“ – ein unspezifisches Motto, das lediglich bedeutet, dass bei dieser Festivalausgabe europäische Theater ihre Arbeiten präsentieren. Wenn man es denn Festival nennen möchte. Letztlich gleicht es mehr einer Videoplattform, auf der die Mitglieder des europäischen Bühnennetzwerks „mitos21“ eine selbst ausgewählte Inszenierung ihres Hauses zeigen dürfen. Elf große Theater sind dem Aufruf gefolgt, etwa aus Schweden, Italien, Frankreich, Belgien, Russland. Gezeigt werden die Videos in Originalsprache, Englisch übertitelt.

Diese zwölfte Ausgabe lehrt den Zuschauer wie die Kritikerin etwas Grundsätzliches: Ein Festival braucht eine Kuratorin – oder eine Jury

Zum Auftakt ließ das Thalia zudem europäische Theatermacher zu Wort kommen, statt wie sonst einen prominenten, gesellschaftskritischen Eröffnungsredner einzuladen. Ein unspektakulärer kleiner Film ist das – und doch sehr bewegend, mit welcher Entschlossenheit und welchem Optimismus Regisseure wie Simon McBurney, Thomas Ostermeier oder Ivo van Hove über das Theater in der Krise sprechen. Am rotzigsten bringt es die slowenische Regisseurin Mateja Koležnik auf den Punkt: „Art is needed. Without art life is just a barbaric day to day piece of shit.“

Diese zwölfte Ausgabe lehrt den Zuschauer wie die Kritikerin nun aber etwas Grundsätzliches: Ein Festival braucht eine Kuratorin – oder eine Jury. Jedenfalls eine Instanz, die den gesamten Festivalzeitraum überblickt und Inszenierungen aus ästhetischen und inhaltlichen Gründen für das eigene Publikum auswählt. Oder Produktionen bündelt, die ähnliche Themen verhandeln. Die Lessingtage haben diesmal weder Kurator noch Jury. Und das stellt sich als größte Leerstelle heraus.

Zu leicht gemacht

Das digitale Format ist selbstverständlich der Coronapandemie geschuldet. Doch leichter, als zwei Hände voll Videos unsortiert online zu stellen, kann man es sich nun wirklich nicht machen. Dabei sind internationale Festivals eine hoch komplexe Angelegenheit. Wie importiert man eine Inszenierung, die für ein kulturell, politisch, ästhetisch anders geprägtes Land entstanden ist, nach Deutschland, ohne dass die Kunst nur exotisch oder unverstehbar bleibt?

Nehmen wir zum Beispiel Russland. Am Mittwoch zeigt das Theater der Nationen in Moskau seine Bearbeitung des Dostojewski-Romans „Der Idiot“, die Kritikerin durfte sie bereits sehen. Darin tanzt ein weiblicher Clown in Charlie-Chaplin-Look anderthalb Stunden auf einer Drehbühne, über die Projektionen von Sternen, Herzchen und Konfetti fliegen. Zwei Männer, als feine Damen verkleidet, versuchen, die Clownin für sich zu gewinnen. Dann fließt Blut, ein Widersacher im Bärenmantel rüpelt herum, dazwischen ein Einhorn. Statt zu sprechen quiekt die Clownin wie ein eingeklemmtes Mäuschen, der Bärenmantel-Kerl knurrt, die Frau-Männer singen.

In Russland ist Dostojewski fester Kanon-Bestandteil, der anscheinend keiner Worte mehr bedarf. Für deutsche Zuschauer bleibt der Abend undechiffrierbar. Eine poetische Kraft kann sich via Bildschirm zudem nicht entfalten. Keine Kuratorin hätte diese Arbeit wohl für ein deutsches Publikum ausgewählt.

Verbunden über Bildschirme?

Diesmal jedoch können Menschen von überall auf der Welt zusehen. Die Festivalleitung preist das verbindende Element daran – aber wie verbindend ist es wirklich, vor dem heimischen Bildschirm Parallel-Zuschauer in Spanien zu imaginieren?

Glücklicher wurde man bei der Stockholmer Adaption des „Idioten“ vom Dramaten Theater, eine zugängliche, auf Psychologie setzende Produktion. Rührend und komisch, wie David Denciks titelgebender Idiot geradeheraus, mit rechtem Herzen doch nie selbstgerecht, die narzisstische Gesellschaft um sich entlarvt. Nur die vielen Aktualitätsversicherungen des Regisseurs Mattias Andersson – von der Gender- bis zur Flüchtlingsdebatte­ – wirken allzu belehrend.

Auch der Pirandello-Klassiker „So ist es (wenn es Ihnen so scheint)“ inszeniert vom Teatro Stabile di Torino hielt bedenkenswerte Einsichten in das Wesen der Wahrheit bereit, sobald man sich an das lautstarke Temperament des italienischen Ensembles gewöhnt hatte. Mit „Nora“, dem „Kaukasischen Kreidekreis“ und „Maria Stuart“ (letztere beiden aus Berlin, vom Berliner Ensemble und dem Deutschen Theater) stehen bis Sonntag noch viele Klassiker auf dem Programm – doch es bleibt eine Zufallsauswahl, deutlich weniger an gesellschaftspolitische Fragen andockend als sich die Lessingtage zuletzt präsentiert hatten.

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