Theater in Bremerhaven: Glaube Liebe Problemkiez
Das Theater Bremerhaven bringt „Glaube Liebe Hoffnung“ auf die Bühne. Aber nicht im eigenen Haus, sondern in Lehe: Deutschlands ärmstem Stadtteil.
Vom Bahnhof Bremerhaven-Lehe sind es etwas mehr als 20 Minuten zu Fuß zur ehemaligen Theodor-Storm-Schule, wo zurzeit das Stadttheater Bremerhaven einen Außenposten bezogen hat. Der Weg führt vorbei an Kiosken und Eckkneipen, Imbissbuden, Spielotheken und Rotlichtviertel. Bremerhaven-Lehe gilt weithin als „Problemkiez“, eine große Boulevardzeitung nannte das Quartier nördlich des Bremerhavener Zentrums den „ärmsten Stadtteil Deutschlands“.
Einst ging „Lili Marleen“-Sängerin Lale Andersen hier zur Schule – als sie noch nicht Lale Andersen hieß. Seit 2007 fungiert „Die Theo“, wie der denkmalgeschützte Backsteinbau heute heißt, als „Haus für Arbeit, Familie und Kultur“. Es gibt offene Beratungsangebote für Arbeitsuchende und Betriebe, Unterstützung bei der Existenzgründung, aber auch Angebote für werdende Eltern und eine Schuldner- und Insolvenzberatung. Die ehemalige Aula, die „Storm Deel“, wird als Ort für Kulturveranstaltungen genutzt.
Johannes Bluth hat sie als ebenerdige Raumbühne eingerichtet, um ein großes Kreuz aus kleinen, sorgsam mit Blumen gespickten Holzquadern herumstehen Stuhlhalbkreise. Das Publikum befindet sich auf Augenhöhe mit dem Ensemble. Von der Seite angeleuchtet, ergeben sie faszinierende Muster. Aber die Blumen stehen natürlich auch für eine Fragilität der Ordnung und derer, die darin leben. „Glaube Liebe Hoffnung“ steht auf dem Programm. Ödön von Horvath verfasste das Stück mit Hilfe des Gerichtsreporters Lukas Kristl, der Horvath den realen Stoff für seinen „kleinen Totentanz in fünf Bildern“ lieferte.
Eingedampfter Klassiker
Für Florian Thiel, Regieassistent am Stadttheater, ist dieser Abend zugleich seine Diplominszenierung, mit der er sein Regiestudium am Wiener Max Reinhardt Seminar abschließt. Das Personal des Stücks hat er für seine rund 90-minütige Fassung auf sieben Personen eingedampft, bleibt aber nah an der Vorlage. „Glaube Liebe Hoffnung“, erzählt die Geschichte der Korsagenvertreterin Elisabeth. Weil sie ohne Gewerbeschein gearbeitet hat, muss sie eine Geldstrafe zahlen. Um die Strafe bezahlen zu können, braucht sie einen Gewerbeschein.
Das Geld für die Strafe leiht sie sich von einem Präparator, der am Anatomischen Institut arbeitet. Dort hatte sie eigentlich ihre Leiche verkaufen wollen. Das Geld für den Gewerbeschein wiederum streckt ihr die Geschäftsfrau Irene Prantl vor. Es könnte sich ihr also die Welt wieder öffnen, wie der Präparator meint.
Als er allerdings erfährt, wofür sie sein Geld verwendet hat, zeigt er sie wegen Betrugs an, er sei „nämlich ein herzensguter Mensch, aber ich vertrag es halt nicht, dass man mich belügen tut“. Elisabeth habe ihm schließlich erzählt, dass ihr Vater Zollinspektor sei. Während er in Wirklichkeit Versicherungsinspektor ist … Für die Frau Amtsgerichtsrat, die im Nebenberuf ebenfalls Korsagen und Strapsgürtel für Frau Prantl verkauft, ist die Sache klar: Tatbestand des Betruges. Dafür muss die junge Frau für 14 Tage ins Gefängnis.
Wieder in Freiheit verliebt sich der Schupo Alfons Klostermeyer in sie. Aber auch dieses Glück ist nur von kurzer Dauer: Als Alfons von ihrer Vergangenheit erfährt, trennt er sich mit Blick auf seine Karriere von ihr. Elisabeth nimmt sich das Leben. Zwar wird sie noch aus dem Kanal gezogen, in dem sie sich ertränken wollte, aber gerettet werden kann sie nicht mehr.
Was als Geschichte ja durchaus das Zeug zum Rührstück hat, ist bei Horvath luzide Gesellschaftsanalyse und -kritik. Hinter der gestelzten Sprache seiner Figuren verbirgt sich nur sehr notdürftig die Brutalität der Konkurrenzsubjekte, erst recht in Zeiten ökonomischer Krisen. Thiels Regie arbeitet diese Charaktermaskerade präzise heraus: Marc Vinzing als Präparator, Henning Z Bäcker als Alfons, Julia Lindhorst-Apfelthaler als Irene Prantl, Isabel Zeumer als Frau Amtsgerichtsrat und Alexander Smirzitz als Kriminaler modellieren ein plastisches Kabinett kleinbürgerlicher Borniertheit.
Lediglich die zumindest bei Horvath als Prostituierte arbeitende Maria (Leon Häder) empfindet und praktiziert Solidarität mit Elisabeth (Marsha B Zimmermann), die bis zum bitteren Ende eine auf ihre Autarkie bedachte Frau ist, auch wenn sie ihr Heil in der Ehe sucht – hier ist Horvath dann vielleicht doch nicht mehr ganz aktuell. Ihre Stärke nützt Elisabeth freilich wenig. Ungerechtigkeit gehöre nun mal zu einer geordneten Gesellschaft, hatte ihr schon Alfons gesagt. Und auf ihre Frage, ob die Welt denn dann nicht zumindest ein bisschen weniger ungerecht sein könnte, herrscht er sie an: „Das ist Philosophie.“
Keine Spur von Mitgefühl
Der Germanist Klaus Kastberger sagte über Horvaths Figuren: „Sie empfinden sich selbst als menschlich und moralisch, hinter ihren Masken erkennt man aber die Bösartigkeit.“ Der Präparator trauert um seinen Rehpinscher, füttert Tauben. Und entnimmt seiner Schmetterlingssammlung das Vorhandensein einer höheren Ordnung. Frau Amtsgerichtsrat findet in einer sentimentalen Aufwallung ja schon, dass ihr Mann der Elisabeth die Strafe doch wenigstens hätte zur Bewährung aufbrummen können.
Aber so etwas wie Mitgefühl? Keine Spur: Schupo Alfons opfert seine Beziehung zu Elisabeth ziemlich umstandslos seiner Karriere, und der Schrecken über den Suizidversuch Elisabeths wandelt vor allem beim vergeblich rettenden Kriminaler in Stolz auf den eigenen Mut.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Viel Stoff für das „Stadtgespräch“, das nach den Vorstellungen von „Glaube Liebe Hoffnung“ unter der Leitfrage „Wie stellt sich die soziale Frage 2024 in Bremerhaven?“ Experten und Expertinnen zum Gespräch bittet. Nach der Premiere sprachen der Bremer Professor für praktische Philosophie, Georg Mohr, und Jochen Merlin, Bewährungshelfer im Ruhestand, mit Stadttheater-Dramaturg Peter Hilton Fliegel zwar eher über die Gerechtigkeit der Justiz als über die soziale Frage im Sinne von Armut. Was allerdings wohl kaum voneinander zu trennen ist.
Ziemlich sicher dürfte ohnehin sein, dass eine kriminelle Vergangenheit bei armen Menschen die Schwierigkeiten bei der Resozialisierung keineswegs verringert. Zwar sei nach Büßen einer Strafe der Rechtszustand wiederhergestellt, sagt Merlin – und Elisabeth hat ihre Strafe schließlich abgesessen. Damit ist die Sache aber eben doch nicht erledigt.
Bei der Arbeitssuche sei ein Eintrag ins Führungszeugnis dennoch fatal, meint Merlin. Dabei liege die Quote derer, die ihre Bewährungsauflagen erfüllten, bei rund 75 Prozent. Der gute Wille ist eben noch keine Gewähr für eine erfolgreiche Resozialisierung. Nicht nur insofern scheint Horvath leider sehr aktuell.
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